Von Dagmar Henn
Es gibt leise Anzeichen von Panik. Wenn man daran denkt, mit welcher Leidenschaft in den letzten Jahren über Sahra Wagenknecht hergezogen wurde, erweckt die heutige Berichterstattung schon fast den Eindruck, nun würde der Mainstream sie geradezu anbetteln, doch eine neue Partei zu gründen. Schließlich gilt seit Sonntag als endgültig bestätigt, dass das ehemalige Wählerpotential der Linken im Osten der Republik mittlerweile bei der AfD das Kreuz macht.
Am weitesten geht da der Focus, dessen Kommentar schon im Titel verkündet "Nur Sahra Wagenknecht kann die AfD jetzt noch stoppen". Es gebe eine neue soziale Gruppe in Deutschland, die Anti-Grünen. Und die Linkspartei würde diesen Wählern kein Angebot mehr machen. So eine kleine Verunglimpfung kann er sich allerdings trotz der sichtlichen Bettelei um eine Parteigründung nicht sparen. Bei den Überschneidungen mit der AfD in der Gegnerschaft zu den Russland-Sanktionen und deutschen Waffenlieferungen spiele "auch ein stabiler Anti-Amerikanismus eine Rolle, den ihr Mann Lafontaine seit 40 Jahren verfolgt, schon mit der Ablehnung des NATO-Doppelbeschlusses gegen seinen Parteifreund Helmut Schmidt zu Beginn der achtziger Jahre."
Damals waren viele in der Bundesrepublik gegen diesen Doppelbeschluss, aber "Anti-Amerikanismus" war da nicht der ausschlaggebende Faktor, sondern eher die Tatsache, dass die USA damals im Grunde etwas Ähnliches beabsichtigten, wie es auch ein NATO-Eintritt der Ukraine zur Folge hätte – nämlich eine massive Verringerung der Vorwarnzeit für die Sowjetunion, falls diese US-Raketen je gestartet würden. Es war kein Geheimwissen damals, dass im Falle einer Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion das Schlachtfeld Deutschland heißen würde. Viele hielten das eben nicht für erstrebenswert (was vielleicht mit dazu beigetragen hat, dass man den Ukrainern so gründlich das Denken verdrehte, ehe ihr Land für die gleiche Rolle auserkoren wurde).
Wobei der Focus-Autor bei einer Parteigründung mehr Schwierigkeiten sieht, als sie das Wahlrecht tatsächlich enthält. Sicher, für einen Einzug in den Bundestag wurden die Voraussetzungen noch einmal weiter verschärft, indem es nicht mehr länger möglich ist, mit drei Direktmandaten ins Parlament zu kommen, sprich, die Gelegenheit wurde genutzt, um die einstmals großen Parteien noch weiter abzusichern. Aber es braucht keine fünf Prozent für die Gründung, und zwar 16 Landesverbände, aber die könnten auch aus jeweils sieben Personen bestehen, da gibt es kein Minimum. Die Gründung einer Partei folgt weitgehend dem Vereinsrecht, denn juristisch gelten die meisten Parteien als nicht eingetragene Vereine.
Die neue Partei, so der Focus, richte sich auf "ein Milieu, das sich nicht nationalistisch, sondern national definiert, nicht liberal, sondern sozial", und nennt das "die Wagenknecht-Lücke". Allerdings wirkt der Kommentar wie ein Bestellzettel, auf dem schon einmal aufgezeichnet ist, was verboten ist – den "Klimawandel leugnen" beispielsweise. Eine Lightversion des momentanen Angriffs auf die Lebensverhältnisse der Mehrheit, mit nur etwas langsamerem Heizungsverbot? Das wird nicht funktionieren.
Die "ungesteuerte Migration" dürfe man "aus sozialen Gründen" ablehnen, wegen des Kampfes um soziale Zuwendungen oder Wohnraum. Auch wegen der Lohndrückerei, die über all die Jahrzehnte das Hauptmotiv war?
Und man dürfe die These ablehnen, "in der Ukraine würden Deutschlands Werte und universalistisch Menschenrechte verteidigt" und Sanktionen und Waffenlieferungen ablehnen. Aber sagen, dass die ukrainischen Nazis Nazis sind und es eine Schande ist, sie zu unterstützen und dass dieses Kiewer Regime entsorgt gehört, das geht natürlich dem Herrn vom Focus zu weit. Aber man darf gegen das Woke sein, in allen Schattierungen.
Die FAZ, die einst als das"Hausblatt der deutschen Bourgeoisie" galt, drängt in eine ähnliche Richtung und interviewt eine Politikwissenschaftlerin, die an einer Studie mitgewirkt hat, deren Titel lautet "Bridging Left and Right? How Sahra Wagenknecht Could Change the German Party Landscape", wie Sahra Wagenknecht die deutsche Parteienlandschaft verändern könnte – aber "Brücken bauen zwischen Links und Rechts"? Ganz plötzlich wird genau das, was jahrelang sofort den Vorwurf "Querfront" auslöste, behandelt wie eine lebensrettende Medizin, als könne man den Schaden, den dieses vage und mit immer mehr Kriterien beladene "rechts", das inzwischen schon aktiviert wird, wenn jemand keine Transfrau in der Frauensauna will, mit einem Handstreich fortwischen.
Dieses Interview versucht sogar, der Linken, die ohne Wagenknecht und Grundmandate vermutlich den Bundestag nur noch von außen betrachten dürfte, eine solche neue Partei schmackhaft zu machen. Sie könne schließlich "als Partnerin attraktiver" sein "für SPD und Grüne". Und es gäbe Grünen-Wähler, die fänden, diese gingen zu viele Kompromisse ein, auf die könne die Linke dann ja setzen.
Währenddessen solle die Wagenknecht-Partei "mit dezidiert linken Inhalten Leute gewinnen", die "enttäuscht sind von der Politik oder sich verloren fühlen mit der progressiven gesellschaftspolitischen Position von Grünen, SPD und Linkspartei". "Progressive gesellschaftspolitische Positionen", da ging es einmal um Lebensqualität für die arbeitende Bevölkerung und nicht darum, das Geschlecht öfter wechseln zu können als die Konfession (ist eigentlich ein Kirchenaustritt teurer als ein Geschlechtswechsel?). Dementsprechend wirkt auch hier der erkennbare Wunsch nach dieser neuen Partei wie mit gespreizten Fingern geschrieben, als ginge es um eine Art Lebertran, der jetzt halt geschluckt werden muss, ehe das Urböse der AfD noch stärker wird und die ganze woke Klientel zu verschlingen droht.
Eines aber haben diese Texte gemein: sie behandeln die politische Landschaft nur wie ein Supermarktregal, in dem es eine neue Waschmittelmarke braucht. Die ganze Situation wird einzig aus dem Blickwinkel der Wahlen gesehen, und wie man es verhindern könne, dass die AfD weiter wächst. Das könnte ein grundlegendes Missverständnis sein. Denn auch, wenn die vielfältigen Sprech- und Denkverbote die Frage, was von wem gesagt werden kann, mit einem für eine demokratisch verfasste Gesellschaft unüblichen Gewicht versehen, geht es doch nicht nur darum, dass noch eine Stimme von links erklärt, Waffenlieferungen an die Ukraine seien eine schlechte Idee oder es gäbe dringendere Probleme als das gewünschte Pronomen.
Es geht darum, diese Politik zu beenden. Den Wahnsinn zurückzudrehen. Es geht nicht um die Frage, ob jetzt lauter oder leiser protestiert wird, oder ob der uniformen Mehrheit eine weitere Stimme widerspricht. Im Kern nämlich lassen all die Bitten um die linke Alternative erkennen, dass sie selbstverständlich erwarten, dass dennoch alles weitergeht wie bisher. Nur, dass die Unzufriedenen ein kleines Ventil haben, das vielleicht – und es fragt sich von vorneherein, für wie lange – nicht als "Nazi" beschimpft wird.
"Es gibt den Trend, alles, was nicht innerhalb eines engen Meinungsspektrums liegt, in die rechte Ecke zu stellen", sagt Wagenknecht selbst in einem aktuellen Interview in der Welt. Auch das gehört in die Reihe der Artikel der plötzlichen Erleuchtung. "Kaum ein Zug fährt pünktlich, als Kassenpatient wartet man Monate auf einen Facharzttermin, zigtausende Lehrer, Kita-Plätze und Wohnungen fehlen, und das normale Leben wird immer teurer. Aber statt Probleme zu lösen, schafft die Ampel zusätzliche." Allein, dass das unwidersprochen bleibt, ist ungewöhnlich.
Aber Wagenknecht weicht der Frage nach einer Parteigründung aus. Eine Partei bräuchte "schon beim Start solide Strukturen und eine entsprechende Satzung". Sicher, die Erfahrung, die sie mit "Aufstehen" machte, war nicht günstig; doch zumindest ist die Wahrscheinlichkeit, dass Anhänger von trotzkistischen Sekten diesmal die Kontrolle übernehmen, geringer.
Dennoch, auf die Frage nach dem Verhältnis zur AfD verweist sie auf deren rechtsextremen Flügel, mit dem sie nichts zu tun haben wolle, übersieht aber den Rechtsextremismus der Grünen, die eben nicht nur für "ein privilegiertes großstädtisches Milieu, das Politik und Journalismus dominiert und mit teils großer Überheblichkeit die öffentlichen Debatten bestimmt" stehen, sondern auch für eine Politik, die außenpolitisch von äußerster Aggression geprägt und in ihrem Kern kolonial und rassistisch ist.
Auch wenn Wagenknecht sich zumindest noch ziert, was sicher auch den massiven Angriffen der letzten Jahre nicht nur aus der Linken, sondern auch aus den Medien geschuldet ist, stellt sich der Chor, in dem um diese Partei gebettelt wird, gerade auf und wird zumindest für Unterhaltung sorgen. Das Problem ist nur, dass eine Partei, die so begrenzt und gezähmt ist, wie sie sich die Autoren dieser Artikel vorstellen, das politische Problem nicht löst, das nur gelöst werden kann, wenn die Sprechverbote fallen. Gerade dieses Milieu, das nun plötzlich erwartet, von Wagenknecht den Rettungsring zugeworfen zu bekommen, wird sich bei der kleinsten Abweichung vom Pfad der Tugend wieder in die woke Meute zurückverwandeln, um die es sich eigentlich handelt.
Denn sie machen sich keine Sorgen um den Zustand des Landes, die Deindustrialisierung, die Verarmung, die damit einher gehen wird, auch nicht um jenen braunen Bodensatz, den ihre Liebe zum Russlandfeldzug aufwirbelt, sondern nur um den Stimmenanteil der AfD. Sollte der wieder sinken, lassen sie sich in die Sessel fallen und machen weiter wie bisher. Der einzige Grund, warum sie eine Wagenknecht-Partei plötzlich für wünschenswert halten, ist, dass damit ein Teil der jetzigen AfD-Wähler abgezogen wird, in der Hoffnung, den Stimmen damit politische Wirkung zu nehmen. Sahra Wagenknecht sollte nicht nur über eine neue Partei nachdenken, sondern auch darüber, ob sie ihnen diesen Gefallen tun will.
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