Von Wladislaw Sankin
Eine längst überfällige Podiumsdiskussion fand vergangene Woche in einem Lokal in Berlin-Moabit statt. Der Verleger und Buchautor ("Feindbild Russland", "Kritik der Migration") Hannes Hofbauer besprach im überfüllten Saal das Buch "Die (Selbst)Zerstörung der deutschen Linken" mit dessen Autor Sven Brajer und dem Bundestagsabgeordneten der Linkspartei Andrej Hunko.
"Von antiimperialistischen, antiautoritär-libertären und antikapitalistischen Strömungen ist bis auf wenige Ausnahmen kaum etwas übriggeblieben. Eine einstmals linke Bewegung ist kulturell im woken Establishment und politisch in der marktkonformen, also der "bürgerlich-parlamentarischen Demokratie" angekommen. Die Linke ist selbst Teil dessen geworden, was sie eigentlich bekämpfen wollte", stellt Brajer in seinem Buch fest. Das Gespräch in Berlin-Moabit entwickelte sich zu einer mitreißenden Ursachenforschung für diese Verwandlung, wobei der Aussteiger Brajer und der ehemalige Vizevorsitzende der Bundestagsfraktion in ihrer Analyse fast immer übereinstimmten.
Selbst war Sven Brajer seit 2014 aktiver Parteiangehöriger, der "etwas bewegen wollte", sah sich aber mit der Politik des Parteivorsitzes unter Katja Kipping und Bernd Riexinger zunehmend konfrontiert, bis er im Frühjahr 2021 aus der Partei ausgetreten ist – noch vor dem Wahldebakel im September 2021, als Die Linke mit 4,9 Prozent der Stimmen nur dank drei Direktmandaten in den Bundestag einzog. Zu diesem Zeitpunkt hatte der promovierte Historiker bereits die Arbeit an seinem Buch begonnen. Ein Buch, das den Niedergang nicht nur der Linkspartei speziell, sondern insgesamt der deutschen linken Bewegung dokumentieren sollte.
Damit hat er in unserer schnelllebigen Nachrichtenwelt die wichtige Aufgabe eines Zeitchronisten auf sich genommen. So wurde das Verhalten seiner Partei in der Corona-Krise der letzte Auslöser für den damals schon überfälligen Schritt. Der Autor erinnerte im Gespräch an den "legendären" Tweet des thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow vom November 2021, als er das Wort "Impfen" 24 Mal wiederholte. Er habe die autoritären Tendenzen in seiner Partei unterschätzt.
"Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ausgerechnet viele Linke staatlichen Meinungsmachern hinterherrennen. Sie sind viel mehr bereit, da mitzumachen, als Konservative."
Die Vorlage "starker Staat" sei dabei entscheidend. Obwohl die totalitären Muster schon mehrfach beschrieben worden seien, scheine sich keiner in der Partei dafür zu interessieren, meint Brajer. In seinem Buch weist er auf die von Foucault, Fromm, Reich und Adorno untersuchten Herrschaftsinstrumente hin.
So typisiert Fromm die Unterwürfigkeit gegenüber Amts- oder generell Autoritätspersonen, manchmal kombiniert mit Destruktivität und Zerstörungslust gegenüber "Abweichlern", der Überhöhung der Eigenen sowie stark ausgeprägtem Opportunismus. Foucault verstand in der Untersuchung von Herrschaftsdiskursen "Biomacht" oder "Biopolitik" als eine staatliche oder von anderen interessierten Akteuren (heutzutage beispielsweise Pharmakonzerne ‒ Anm. d. Red.) angestrebte Kontrolle und Regulierung des Gesundheitszustandes der gesamten Bevölkerung. "Die weltweiten Massenimpfungen gegen COVID-19 fallen definitiv in diese Kategorie", schlussfolgert Brajer in einem Telepolis-Artikel.
Der Abgeordnete und Außenpolitiker der Linkspartei, Andrej Hunko, berichtete zunächst über seine Erfahrungen mit dem Themenkomplex Corona. Mit "Erstaunen" musste er feststellen, wie leicht die jüngeren Parteimitglieder, die er in seinem Wahlbezirk zu ihren Ämtern befördert hatte, sich gegen ihn gewandt haben, als er eine kritische Diskussion zur Sinnhaftigkeit der Corona-Maßnahmen und Impfpflicht einforderte.
Viele Parteimitglieder hätten nicht nur bei allen staatlich verordneten Maßnahmen unreflektiert mitgemacht, sondern jegliches Hinterfragen als "rechts" stigmatisiert. Auch er persönlich wurde scharf attackiert, als er sich entschloss, auf einer Corona-kritischen Demo aufzutreten. Er erinnert sich:
"Auch die Linken haben mit dem Slogan 'Nazis raus' gegen 2.000 Demonstranten, die gegen die Impfpflicht in Aachen protestiert haben, gehetzt."
"Wir sind die Guten"
Das, wie auch das Verhalten in anderen Bereichen, wie etwa der Klima- oder Flüchtlingspolitik, sei in einem von den Medien geprägten Solidaritätsverständnis verwurzelt. Sollte jemand etwa gegen die Impfpflicht sein, sei er egoistisch und damit ein böser Mensch, ein "Rechter", erklärt Hunko die einfache Logik dahinter. "Eine moralisch geprägte junge Linke neigt dazu, zu den Guten gehören zu wollen, zu den Solidarischen und nicht zu den 'Egoisten'. Bitte schön, gehören Sie doch zu den Guten?", fragte er scherzhaft sein überwiegend älteres Publikum.
"Die Gesellschaft wird über meinungsmächtige Strukturen in Gut und Böse formatiert. Und die Linke muss nicht nur zum guten Teil gehören, sondern an die Spitze des guten Teils gelangen."
Bei der Aufgabe, die offensichtlichen Widersprüche der Corona-Politik zu diskutieren, habe Die Linke versagt. "Eine linke Partei muss in einer solchen Situation zumindest ein Organ der kritischen Begleitung sein. Das wurde verunmöglicht. Das kritische Bewusstsein wurde durch die Moral steuerbar", stellte Hunko fest und gab zu, alle wichtigen Schlussfolgerungen aus dem Buch des Parteiaussteigers Brajer "im Kern" zu teilen.
Insgesamt haben sich die beiden an diesem Gesprächsabend fast in jeder Hinsicht gegenseitig ergänzt. Hunkos "Moraltheorie" und die Thesen des Buches passten zueinander wie zwei perfekt zusammenwirkende Komplementärstrukturen. Mit dem neuen vermeintlichen moralischen Imperativ wollen die Linken auch heiliger als der Papst sein, wenn sie beinahe mit religiöser Inbrunst die Postulate der Grünen über den Klimawandel oder die Genderpolitik übernehmen und auf die Spitze treiben.
Das gehe laut Brajer mit der "Verwestlichung" der Partei einher. Im Großen wie im Kleinen schwimme Die Linke auf wirklich jeder globalen Welle mit, stellt er in seinem Buch fest. "Es findet die Abkehr vom Klassenkampf, hin zum Geschlechterkampf statt".
Das gleiche "Gutseinwollen" in den Augen des herrschenden Diskurses erkläre auch das Verhalten vieler Linker in der Ukraine-Krise. Es erfolge ein grundlegender Wandel und eine Abkehr von den traditionell guten linken deutsch-russischen Beziehungen hin zur Orientierung in Richtung USA, Israel, EU und NATO. Die Feindbilder des Westens werden dabei übernommen.
"Russland wurde spätestens seit 2022 als neues Feindbild aufgebaut (dabei spielte die tradierte Russophobie in Westdeutschland eine große Rolle), dazu kommen die Feindbilder Iran, Ungarn, Serbien, zum Teil auch Palästina", kritisiert der Autor. Die Übernahme der herrschenden Narrative mache die Linke kritikunfähig ‒ und in ihrer jetzigen Form überflüssig.
"Jegliches dialektische Denken ist in großen Teilen der Linken verschwunden", sagt Brajer verbittert.
Von "Putin-Verstehern" zu Biden-Getreuen
Die Diskussion klingt nach einem Abschiedsgesang. Auch für den noch im Amt befindlichen Abgeordneten Andrej Hunko. Seit Langem wird er in seiner Partei von Transatlantikern ausgegrenzt. Nun, seit dem Wechsel des einflussreichen Ex-Abgeordneten Stefan Liebich zur US-Filiale der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS), erst recht. Hunko war stets derjenige, der seit dem Staatsstreich 2014 in Kiew immer wieder auf faschistisch-nationalistische Elemente in den ukrainischen Regierungseliten hingewiesen hat. Mittlerweile findet dieser Aspekt in der außenpolitischen Analyse der Linkspartei gar keine Erwähnung mehr.
Am besten dokumentiert das der jüngste Aufsatz der RLS "Die Rolle der USA im Ukraine-Krieg". Das Dokument scheint dem Kabinett der Biden-Regierung entsprungen zu sein. Die Biden-Regierung sei demnach ein verantwortungsvoller Akteur, zu dessen Aufgabe zum Beispiel die Sicherung der Energieversorgung der USA und des Westens zähle. "Sie will verhindern, dass die Benzin- und Ölpreise im eigenen Land stark ansteigen, aber auch, dass die europäischen Partner unter Energiemangel leiden." Die Sprengung der Nord Stream-Pipelines wird natürlich mit keiner Silbe erwähnt.
Für die Beurteilung des russisch-ukrainischen Konflikts bedient sich der Autor aller gängigen Postulate des Westens, deren Hauptformel lautet, Russland handele aus einem chauvinistisch-nationalistischen Motiv und greife die dem Westen zugewandte und demokratieliebende Ukraine an. Dasselbe Argument habe ich im Jahr 2018 von der damaligen Grünen-Abgeordneten Rebecca Harms als Erwiderung auf meine Frage zum ukrainischen Nationalismus gehört. Nun ist das Argument auch "links".
Das Ganze rundet das Bild der friedfertigen USA ab. Keineswegs führen die USA in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg und wolle ihn eigentlich schnellstmöglich beenden. Ja, so steht es wirklich geschrieben, in einem Papier der Linkspartei:
"Das risikoscheue Pentagon würde den Krieg lieber heute als morgen beendet sehen."
Es ist also nur folgerichtig, dass Hunko und Abgeordnete wie Sevim Dağdelen nun parteiintern verstärkt als "Diktatorenfreunde" diffamiert werden. "Es läuft darauf hinaus, dass jeder, der irgendwie US-kritisch ist, einfach nur 'autoritär' ist", sagt Hunko.
Weg von Dialektik und Aufklärung, hin zur manichäischen Irrationalität, wobei viele Schlüsselbegriffe aus dem sogenannten progressiven Spektrum, wie etwa "Minderheitenschutz", "Kolonialismus", "Imperialismus", vom herrschenden Diskurs einfach gekapert werden. Das findet nicht nur in der Partei Die Linke statt, das betrifft das "linke" Spektrum generell, und zwar nicht nur in Deutschland. Aus der abschließenden Diskussion mit dem Fachpublikum, das an diesem Abend mit vielen ergänzenden Impulsbeiträgen punktete, wird dies besonders deutlich.
Totgesagte leben länger?
Was folgt daraus? Zumindest für die Anwesenden ist das klar. Die Partei Die Linke, die als solche seit dem Zusammenschluss der SPD-Abspaltung WASG und der Linkspartei PDS am 16. Juni 2007 agiert, gibt es nicht mehr. Zu bedauern ist dies aber nicht. Die Entwicklung der Partei ist nicht auf die Fehler einzelner Personen zurückzuführen ‒ die Selbstabschaffung der Linken ist ein objektiver Prozess. Genauso heimisch, wie sich Stefan Liebich beim linken Flügel der Demokratischen Partei der USA fühlt, werden sich wohl viele Linke aus dem Gefolge Katja Kippings bei den Grünen oder der SPD fühlen.
Die endgültige Spaltung oder gar Auflösung der Partei scheint also nur eine Frage der Zeit zu sein. Darauf deutet auch die derzeitige Stimmung in der Fraktion hin, wie Andrej Hunko kurz schilderte. Ob die Kritiker der offiziellen Parteipolitik bei einer künftig möglichen Wagenknecht-Partei gut aufgehoben sein könnten, ist allerdings noch unklar. Dafür müssten noch viele organisatorische Hürden überwunden werden. Eine organische Partei besteht aus Ämtern, Hierarchien und einem funktionierenden System. So konnte beispielsweise der SPD-Aussteiger Lafontaine 2005 bei der Gründung der Linkspartei auf gewachsene Strukturen der WASG setzen.
Derzeit sieht es aber nicht danach aus, dass um die konfliktscheue und organisationsschwache Frontfrau Wagenknecht herum bald ein tatkräftiges Team versammelt werden könnte. Dass sie sich irgendeiner anderen politischen Kraft anschließen würde, scheint gänzlich ausgeschlossen. Aber bis zu den nächsten Bundestagswahlen ist noch etwas Zeit...
Mehr zum Thema - Pandemie, Ukrainekrieg und Klimawandel – Positionen auf der zweiten Konferenz der Freien Linken