In einem Diskussionsbeitrag zum Ukraine-Konflikt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung plädiert der Politikwissenschaftler Johannes Varwick für eine realistische Ukraine-Politik, die ihre moralische Hybris aufgibt.
Die Ukraine-Politik "ist gut gemeint, aber schlecht gemacht", meint Varwick. Der Politikwissenschaftler will zudem eine immer größere Diskrepanz zwischen den öffentlichen Bekenntnissen westlicher Politiker und dem, was hinter den Kulissen gesprochen wird, erkennen. Insbesondere in den USA bröckle die Unterstützung für die Ukraine erkennbar, auch wenn sich Präsident Joe Biden nach wie vor zur bedingungslosen Unterstützung der Ukraine bekenne.
Varwick plädiert dafür, einige der in Deutschland liebgewonnenen, aber völlig unrealistischen Glaubenssätze über Bord zu werfen. Dazu gehört, dass Verhandlungen über einen Waffenstillstand derzeit nicht sinnvoll seien. In Deutschland werden große Hoffnungen auf die sogenannte Frühjahrsoffensive gesetzt.
In Deutschland glaubt man, dass erst nach umfassenden Geländegewinnen Verhandlungen mit Russland zweckmäßig erscheinen. Einige Stimmen halten sogar die Rückeroberung der Krim für eine notwendige Voraussetzung. Im Anschluss an den erwarteten militärischen Erfolg solle die Ukraine unmittelbar in die westlichen Bündnisse aufgenommen werden, ist eine in Deutschland vielfach vorgetragene Meinung.
Varwick weist darauf hin, dass Russland als Atommacht nach wie vor über die Fähigkeit verfüge, alle Eskalationsschritte des Westens mitzugehen. Auch sei es unrealistisch zu erwarten, dass sich China im Fall einer absehbaren Niederlage Russlands weiterhin neutral verhalte und nicht eingreife. Die Vorstellungen deutscher Politiker würden aber faktisch eine Kapitulation Russlands implizieren. Diese Idee sei illusorisch.
Varwick führt zudem an, der Westen habe die von Russland deutlich gezogenen roten Linien ignoriert, wodurch ihm ein erheblicher Anteil an der Eskalation des Konflikts zukomme. Er schreibt:
"Der Westen hatte im Vorfeld des Krieges die deutlich erklärten roten Linien Russlands überschritten und war nicht zu einem nüchternen Interessenausgleich bereit. Kern eines solchen Interessenausgleichs hätte der Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine sein müssen, die trotz aller gegenteiligen westlichen Behauptungen von Russland als zunehmend wahrscheinlich wahrgenommen wurde. Russland ging und geht es vermutlich nicht um die Vernichtung der Existenz der Ukraine, sondern um die Zerstörung der Ukraine als von ihm so wahrgenommenen 'antirussischen Projekts'."
Vor allem mit dem letzten Satz bricht Varwick radikal mit der Vorstellung von den russischen Kriegszielen, wie sie deutsche Medien kommunizieren. Ziel ist weder die vollständige Einnahme der Ukraine noch ihre Vernichtung. Russland hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es um die eigenen Sicherheitsinteressen ging. Noch im Dezember 2021 richtete Russland einen Brief mit Forderungen nach Sicherheitsgarantien sowohl an die NATO als auch an die USA. Rückblickend war das die letzte Möglichkeit, die militärische Eskalation zu vermeiden, die von den westlichen Staaten jedoch vertan wurde.
Es brauche diplomatische Initiativen, ist sich Varwick sicher. Keine Seite werde ihre Maximalforderung durchsetzen können, schreibt der Politologe.
"Es wird vermutlich am Ende eine neutrale Ukraine geben, die sich nicht eindeutig im westlichen Lager befindet oder gar selbstverständlicher Teil des euroatlantischen Bündnisses ist. Entlang dieser Linie wird eine Verhandlungslösung gefunden werden müssen. Zudem sollte nicht der Anspruch auf dauerhafte Lösungen, sondern mit Bescheidenheit zunächst ein Einfrieren dieses Konflikts versucht werden."
Die deutsche Ukraine-Politik, so sehr sie auch moralisch fundiert sein mag, sei für die Ukraine als Staat verheerend, denn sie führe zur völligen Zerstörung der Ukraine.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Forderungen, die Varwick an Deutschland stellt, von anderen Ländern erfüllt werden. Friedensinitiativen und die Suche nach einer diplomatischen Lösung kommen aus China, Brasilien und inzwischen auch aus Afrika.
Für Deutschland bedeutet dies einen enormen Ansehensverlust, denn es zeigt, dass es in Deutschland an grundlegender diplomatischer Kompetenz und auch am Verständnis von politischen Zusammenhängen mangelt. Deutschland ist nicht in der Lage, den Konflikt auf dem eigenen Kontinent zu lösen, ist die Botschaft, die in alle Welt gesandt wird.
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