Die Zeitschrift Emma druckt ein Interview mit dem Generalmajor a. D. Harald Kujat nach, das ursprünglich in der Schweizer Internet-Zeitung Zeitgeschehen im Fokus erschienen war. In diesem Interview räumt Kujat mit zahlreichen Vorurteilen über den Ukraine-Konflikt auf, die in Deutschland verbreitet worden sind und weiter verbreitet werden.
Besonderes Augenmerk verdienen seine Ausführungen zu den Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im März des vergangenen Jahres. Demnach bestand damals eine gute Chance auf einen raschen Frieden, die vom Westen hintertrieben wurde.
"Russland hatte sich in den Istanbul-Verhandlungen offensichtlich dazu bereit erklärt, seine Streitkräfte auf den Stand vom 23. Februar zurückzuziehen, also vor Beginn des Angriffs auf die Ukraine. (...) Die Ukraine hatte sich verpflichtet, auf eine NATO-Mitgliedschaft zu verzichten und keine Stationierung ausländischer Truppen oder militärischer Einrichtungen zuzulassen. Dafür sollte sie Sicherheitsgarantien von Staaten ihrer Wahl erhalten. Die Zukunft der besetzten Gebiete sollte innerhalb von 15 Jahren diplomatisch, unter ausdrücklichem Verzicht auf militärische Gewalt gelöst werden."
Dieser für die Ukraine positive Friedensschluss wurde laut Kujat vom damaligen Premierminister des Vereinigten Königreichs Boris Johnson verhindert.
"Nach zuverlässigen Informationen hat der damalige britische Premierminister Boris Johnson am 9. April in Kiew interveniert und eine Unterzeichnung verhindert. Seine Begründung war, der Westen sei für ein Kriegsende nicht bereit."
Damit macht Kujat auch deutlich, dass es sich bei dem Konflikt keineswegs mehr um einen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland handelt, sondern vielmehr zwischen der von der von den USA geführten NATO und Russland.
Die Rolle der deutschen Medien ist in den Augen Kujats in diesem Zusammenhang unrühmlich. Faktisch verschweigen sie diese Möglichkeit eines frühen Friedensschlusses. Auch die in deutschen Medien oft erhobene Anschuldigung, Russland wolle nicht verhandeln, ist laut Kujat falsch. Russland hat zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Konflikts seine Verhandlungsbereitschaft signalisiert, die immer wieder zurückgewiesen wurde – unter anderem von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen).
Unrühmlich war auch die Haltung Deutschlands im Rahmen von Minsk 2, das die territoriale Integrität der Ukraine erhalten sollte. Die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mittlerweile eingestanden, dass es bei den Verhandlungen seitens der westlichen Partner nie um Frieden, sondern lediglich darum gegangen sei, der Ukraine Zeit zur Aufrüstung zu verschaffen. Sowohl der damalige französische Präsident François Hollande als auch der damalige Präsident der Ukraine Petro Poroschenko bestätigten dies. Kujat benennt dies ganz klar als Völkerrechtsbruch.
"Russland bezeichnet das verständlicherweise als Betrug. Und Merkel bestätigt, dass Russland ganz bewusst getäuscht wurde. (...) Die Bundesregierung hatte sich in der UNO-Resolution dazu verpflichtet, das 'gesamte Paket' der vereinbarten Maßnahmen umzusetzen. Darüber hinaus hat die Bundeskanzlerin mit den anderen Teilnehmern des Normandie-Formats eine Erklärung zur Resolution unterschrieben, in der sie sich noch einmal ausdrücklich zur Implementierung der Minsk-Vereinbarungen verpflichtete. (...) Ja, das ist ein Völkerrechtsbruch, das ist eindeutig. Der Schaden ist immens."
Was die Frage von Waffenlieferungen angeht, so würden Medien und vermeintliche "Experten" die verantwortlichen Politiker vor sich her treiben – zum Schaden der Ukraine. Waffenlieferungen würden nicht zum Sieg führen können, sondern zur immer weiter gehenden Zerstörung der Ukraine und zu einer Zunahme der Opfer. Die Frage sei zudem, ob die Ukraine überhaupt noch über die menschlichen Ressourcen verfüge, um die Waffenlieferungen des Westens auch nur annähernd sinnvoll einsetzen zu können.
"Ob die ukrainischen Streitkräfte angesichts der großen Verluste der letzten Monate überhaupt noch über eine ausreichende Zahl geeigneter Soldaten verfügen, um diese Waffensysteme einsetzen zu können, ist allerdings fraglich."
Noch im Januar 2022 hätte dieser Krieg verhindert werden können, wenn die Ukraine Schritte zur Umsetzung des Minsker Abkommens eingeleitet hätte, führt Kujat aus.
"Nicht wegdiskutieren kann man allerdings, dass die Weigerung der ukrainischen Regierung … das Abkommen umzusetzen, noch wenige Tage vor Kriegsbeginn, einer der Auslöser für den Krieg war."
Aus seiner eigenen beruflichen Laufbahn weiß Kujat um die Zuverlässigkeit Russlands hinsichtlich gemachter Zusagen. Russland sei vertragstreu. Allerdings stelle sich jetzt angesichts der Vertragsbrüche des Westens die Vertrauensfrage. Selbst wenn es zu Verhandlungen käme, wem könne Russland angesichts der Vorgeschichte überhaupt noch vertrauen?
Generell weist der ehemalige Generalmajor nach, dass die Diskussionen in Deutschland von politischer und militärstrategischer Naivität getragen sind. Die Ziele seien nicht klar formuliert, es mangele an Sachverstand und es sei obendrein nicht klar benannt, welche eigenen Interessen Deutschland in diesem Konflikt eigentlich verfolge. Die Diskussion würde in den USA wesentlich rationaler und aufgeklärter geführt werden.
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