"Putin hatte aktive Rolle bei Abschuss von Flug MH17". So oder ähnlich titelten am gestrigen Mittwochnachmittag von zdf, rnd, taz, Süddeutsche, nzz bis focus praktisch alle deutschen Onlinemedien und bezogen sich auf angebliche Erkenntnisse der Ermittler des Joint Investigation Teams (JIT) zum Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs mit der Flugnummer MH17 über der Ukraine im Jahr 2014.
Über acht Jahre hatte das JIT, bestehend aus niederländischen, australischen, malaysischen und ukrainischen Ermittlern, den Abschuss der MH17 untersucht. Gestern Mittag stellte das Team auf einer Pressekonferenz in Den Haag seine Ergebnisse vor. Von einer "aktiven Rolle" Putins war mit keinem Wort die Rede. In der Tat war diese Formulierung, die in so gut wie allen Berichten auftauchte, ein Zitat aus der Meldung der dpa, die schlichtweg falsch war.
Die Original-Meldung der Nachrichtenagentur dpa von 13:51 Uhr lautete:
"Der russische Präsident Wladimir Putin spielte nach Erkenntnissen internationaler Ermittler eine aktive Rolle beim Abschuss des Passagierflugzeuges MH17 im Juli 2014 über der Ostukraine. Das geht aus abgehörten Telefongesprächen hervor, wie das Ermittlerteam am Mittwoch in Den Haag mitteilte."
Die Meldung der dpa war aber nicht nur falsch. Sie war auch irreführend, denn sie legte den Lesern nahe, dass der russische Präsident selbst den Abschuss des Passagierflugzeugs befohlen haben könnte.
Die erste etwas ausführlichere Meldung der dpa erfolgte um 15:01 Uhr, als die meisten Medien bereits die Kurzmeldung bereits ungeprüft übernommen und veröffentlicht hatten. Dem Nachrichtensender Welt war es sogar eine Eilmeldung wert.
Doch auch die zweite Version der dpa war nicht richtiger. Weiterhin war von der "aktiven Rolle" Putins für den Abschuss der MH17 die Rede, sogar einer Hauptrolle, wie aus Telefongesprächen hervorgegangen sei.
Was die JIT berichtete
Wer sich die Pressekonferenz oder sogar den 70-seitigen Abschlussbericht der JIT ansieht, wird verstehen, dass es sich bei der dpa-Formulierung nicht um Flapsigkeit und bei der Kritik an ihr nicht um Haarspalterei handelt.
Tatsächlich berichteten die Ermittler des JIT von ihren Bemühungen die Hintergründe zu dem sowjetischen BUK-TELAR-Flugabwehrsystem herauszufinden, das ihrer Darstellung nach für den Abschuss von MH17 am 17. Juli 2014 eingesetzt worden war. (TELAR steht für transporter erector launcher and radar, zu Deutsch: Transport, Aufrichter, Starter und Radar.)
Russland bestreitet die Version der JIT, der zufolge eine russische BUK zum Absturz von Flug MH17 führte. Von russischer Seite wurde zudem kritisiert, dass russische Spezialisten für die Teilnahme an den Ermittlungen des JIT nicht zugelassen wurden. Entgegen der Behauptung, nicht zu kooperieren, veröffentlichten russische Stellen die Aufzeichnungen der Radaranlagen für das Gebiet, aus dem die Rakete abgefeuert wurde.
Ebenfalls hatte das JIT die Angaben des BUK-Herstellers Almas-Antej ignoriert. Der Modellierung des Konzerns zufolge wurde Flug MH17 von einer Rakete getroffen, die 3,5 Kilometer südlich der damals von ukrainischen Streitkräften besetzten Ortschaft Saroschtschenskoje abgefeuert wurde.
Dem JIT teilten mit, dass es ihnen darum ging, zwei getrennte Entscheidungsprozesse nachzuvollziehen, wofür zweifellos nachrichtendienstliche Methoden eingesetzt wurden. Der erste Entscheidungsprozess, der die Ermittler interessierte, war, wer entschieden hatte, die verdächtigten BUK-Systeme während des ukrainischen Bürgerkriegs an die Volksrepublik Donezk zu liefern.
Hier geht das JIT davon aus, dass nur der russische Präsident diese Entscheidung treffen konnte. In seiner Beweisführung bezieht sich das JIT auf Bewegungsprofile Putins sowie abgehörte Gespräche von beteiligten Personen in der Volksrepublik Donezk. In den vom JIT präsentierten Mitschnitten ist aber weder von Flugabwehr noch von Putin die Rede. Bei den Ergebnissen der JIT handelt es sich vielmehr um Schlüsse, die vollständig im Kontext von Vermutungen gezogen wurden.
Das abgehörte Gespräch, in dem Präsident Putin mit einem Vertreter der Separatisten sprechen soll, stammt aus dem Jahr 2017. Die Ermittler deuten dieses Gespräch lediglich als einen Hinweis dafür, dass Putin persönlich in der Entscheidungsfindung aufseiten der Separatisten beteiligt war. Mehrfach weist das JIT darauf hin, dass es lediglich starke Hinweise gebe, dass die Entscheidung für die Lieferung der BUK-Systeme auf präsidialer Ebene getroffen wurde. Die gesammelten Beweise seien aber nicht stark genug, um "rechtmäßig oder überzeugend" zu sein (lawful and convincing).
Der zweite Entscheidungsprozess, der die Ermittler interessierte, war, wer den Befehl für den Schuss auf Flug MH17 gab. Am besagten Tag des Abschusses sollen laut dem JIT ein Berater Volksrepublik Donezk und ein FSB-Offizier in engem telefonischen Kontakt gestanden haben. Über den Inhalt der Gespräche gebe es aber keinerlei Informationen, da die Leitung verschlüsselt war. Hinweise auf eine direkte Verbindung zu höheren Kreisen der russischen Armee habe man nicht.
Die entscheidende Frage, warum die BUK-Rakete abgefeuert wurde, konnte die JIT bis heute nicht beantworten. Weder habe man Kenntnisse darüber, wer den Befehl gab, noch was der Befehl enthielt.
Interessanterweise merkte das JIT zu den Umständen der vermuteten BUK-Lieferung an die Separatisten an, dass es jenen kurz zuvor gelungen war, ein Transportflugzeug der ukrainischen Armee abzuschießen. Dies zwang die ukrainischen Flugzeuge in größerer Höhe zu fliegen, und infolgedessen benötigen die Separatisten eine effektivere Flugabwehr. Ebenfalls wurde erwähnt, dass der damalige Verteidigungsminister der Volksrepublik Donezk, Igor W. Girkin, aka Strelkow, in seinem Hauptquartier in Slawjansk durch die ukrainische Luftwaffe beschossen wurde.
Wovon im Bericht der JIT nicht die Rede war, ist der Beschuss von Lugansk Anfang Juni 2014 (bestätigt durch die OSZE) sowie allgemein die Hintergründe zum Beginn des ukrainischen Bürgerkriegs. Zuletzt kam auch nicht die Frage zur Sprache, wie es dazu kommen konnte, dass ein Passagierflugzeug im Sommer 2014 über ein Kriegsgebiet flog.
Fazit
Die Leser der deutschen Leitmedien erfuhren von den angesprochenen und ausgelassenen Punkten des JIT-Berichts praktisch nichts. Teilweise wurde nicht einmal die Falschmeldung der dpa korrigiert, geschweige denn auf sie hingewiesen und die eigentlich übliche Bitte um Entschuldigung an der entsprechenden Stelle passiert. Stattdessen dämpften mehrere Onlinezeitungen lediglich ihre reißerischen Titel still und leise, zum Beispiel zdf und Tagesschau. Andere Medien, etwa die Süddeutsche, ließen sie unverändert. Überschriften sind in Zeiten des ADHS-Journalismus alles, was zählt. Warum sollte man auch?
Auch Videos mit der Falschmeldung sind weiterhin online. Selbst der peinliche Ausschnitt von Welt, in dem die "Russland-Expertin" Sarah Pagung gefragt wurde, ob man Putin jetzt per internationalem Haftbefehl suchen könne, und Pagung darauf hinweisen musste, dass es überhaupt nicht genug Beweise für eine Anklage gebe, wurde nicht gelöscht.
Am selben Tag, sogar zum selben Zeitpunkt der Pressekonferenz der JIT, veröffentlichte der US-amerikanische Investigativ-Journalist Seymour Hersh seinen Artikel, in dem er die USA und Norwegen für die Zerstörung der deutsch-russischen Pipelines Nord Stream 1 und 2 verantwortlich machte.
Skeptische Gemüter zogen den voreiligen Schluss, dass der Zeitpunkt, an dem die deutsche Presse lieber wieder über ihren Lieblingsschurken Putin schrieben, anstatt Hershs Recherchen zum größten Fall von Wirtschaftsterrorismus in der Geschichte der BRD aufzugreifen, einfach zu passend war. So groß ist das Misstrauen in die Leitmedien mittlerweile.
Dass es sich bei der MH17-Falschmeldung um eine absichtliche Nebelkerze handelte, darf bezweifelt werden. Die Pressekonferenz der JIT und Hershs Veröffentlichung fielen zufällig auf denselben Tag. Zumindest sprechen die Reaktionen in der deutschen Presselandschaft aber dafür, dass die dpa-Falschmeldung willkommen war, und der Hoax nahm seinen Lauf. (Man könnte auch sagen, die Lüge.) Für die Redaktionsstuben der Leitmedien sitzt der Feind nun einmal im Osten, und die dpa, die hat immer recht.
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