Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat einem Medienbericht zufolge von der Bundesregierung eine Stellungnahme zu den Schulschließungen während der Corona-Krise gefordert. Das Bundesjustizministerium bestätigte gegenüber der Welt am Sonntag den Eingang eines Fragenkatalogs des Gerichts zur sogenannten "Bundesnotbremse".
Konkret fordert das Gericht eine Antwort auf die Frage, ob das Kindeswohl nach Einschätzung der Bundesregierung tatsächlich der zentrale Maßstab für die erneuten Schulschließungen gewesen sei. Die Richter wollen außerdem wissen, inwiefern die Auswirkungen früherer Schließungen in der Corona-Krise bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt worden waren.
Darüber hinaus habe der EGMR die Regierung aufgefordert, Informationen über die damalige "Verfügbarkeit, den Umfang und die Dauer alternativer Bildungsmöglichkeiten", wie hybride Lernmöglichkeiten, Onlineunterricht und Notfallbetreuung in der Schule, vorzulegen. Als Frist zur Beantwortung der Fragen hatte der Gerichtshof den 12. April festgelegt.
Im Rahmen der "Bundesnotbremse" kam es zwischen April und Juni 2021 zu drastischen Einschränkungen des öffentlichen Lebens, wenn die Inzidenzen in einem Landkreis bestimmte Werte überschritten. Ab einer Inzidenz von 100 mussten auch Schulen ganz oder teilweise schließen. In der Corona-Krise wurden die Schulen insgesamt an 183 Tagen geschlossen, Deutschland belegt damit im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine Spitzenposition.
In der Frage der Schulschließungen scheint in der öffentlichen Debatte in der letzten Zeit allerdings eine Kehrtwende stattzufinden: So erklärte Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, kürzlich, die Schulen hätten nie ganz geschlossen werden müssen. Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sagte jüngst: "Im Nachhinein war es ein Fehler, die Schulen und Kitas so lange geschlossen zu halten." Der "Wissensstand" sei damals jedoch noch nicht so gut gewesen.
Kritiker der Corona-Maßnahmen wiesen hingegen schon während der Corona-Krise darauf hin, dass die Schulschließungen schwerwiegende Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche haben könnten. Belegt wurde dies auch kürzlich durch eine Metaanalyse im Fachjournal Nature, die zu dem Ergebnis kam, dass 35 Prozent der Schüler den Lernfortschritt eines ganzen Schuljahres eingebüßt haben. Doch auch zuvor gab es zahlreiche Untersuchungen, die eine drastische Zunahme genereller Depressionssymptome und der Selbstmordversuche von Jugendlichen während der Schulschließungen belegten.
Bereits im Mai 2022 waren die vor dem EGMR klagenden Anwälte, Axel Koch und Bernhard Ludwig, vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Die damals beauftragten Sachverständigen hatten sich mehrheitlich im Sinne der Klage geäußert. Ausnahme war hierbei der Charité-Virologe Christian Drosten: In einer Stellungnahme Drostens hieß es, dass der Schulbetrieb "einen deutlichen, wenn auch quantitativ schwer erfassbaren Beitrag zur Infektionsverbreitung" leistete. Alternative Maßnahmen wie Masken oder Tests seien demnach keine Alternativen. Koch hingegen sagte der Welt am Sonntag:
"Bereits früh sprach vieles dafür, dass Kinder nicht schwer an COVID-19 erkranken und im Vergleich zu Erwachsenen deutlich weniger zum Infektionsgeschehen beitragen."
Zudem sei von Anfang an klar gewesen, dass die Maßnahmen Kinder in einer kritischen Phase ihrer Entwicklung treffen und daher schwere Folgen haben könnten. Karlsruhe wies die Klage der beiden Anwälte im November 2021 jedoch ab. Nach Auffassung der Richter seien die Maßnahmen zum Schutz der Risikogruppen vertretbar gewesen, solange sich der Staat auf wissenschaftliche Expertisen stützen könne, die nicht eindeutig widerlegt seien.
Koch und Ludwig legten anschließend Beschwerde beim EGMR ein, der über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention wacht. Unter anderem argumentierten sie, die langen Schulschließungen hätten die Menschenrechte auf Bildung sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.
Deutsche Behörden und Gerichte müssen die Rechtsprechung auf europäischer Ebene umsetzen. Sollten die Kläger Erfolg haben, könnten die Schließungen demnach doch noch für rechtswidrig erklärt werden. Dem Bericht der Welt am Sonntag zufolge deutet der Fragenkatalog, den die Richter verschickt haben, darauf hin, dass die Richter den Fall ernst nehmen. Nur rund zwei Prozent der Beschwerden, die jährlich beim Menschenrechtsgerichtshof eingehen, werden der Bundesregierung, verbunden mit der Bitte um Stellungnahme, übermittelt.
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