Wirtschaftshistoriker Sebastian Müller kommt in einem Beitrag für den wirtschaftspolitischen Blog Makroskop zu einem überraschenden Ergebnis: Zuwanderung wird Deutschland nicht helfen, den Fachkräftemangel zu bekämpfen. Sie wird ihn im Gegenteil noch verschärfen.
Generell gilt Zuwanderung als Heilmittel für den Fachkräftemangel in Deutschland. In vielen Bereichen fehlen gut ausgebildete Fachleute. Arbeitsmarktexperten fordern daher einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt – sowohl diejenigen, die der Arbeitgeberseite nahestehen, als auch gewerkschaftsnahe. Es muss also stimmen.
Die Bundesregierung greift daher Experten-Vorschläge immer wieder auf, und senkt die Hürden für den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt in regelmäßigen Abständen weiter ab. Bereits das erste Kabinett von Bundeskanzler Schröder wollte im Jahr 2000 mit einer Green-Card Fachkräfte anlocken, indem es eine erleichterte Arbeitsaufnahme versprach. Es ging damals vor allem um Programmierer aus Indien – Deutschland drohe die Digitalisierung zu verschlafen, war das Argument. Inzwischen sind wir einen Schritt weiter, denn Deutschland hat die Digitalisierung tatsächlich verschlafen. Die erste große Anwerbungskampagne nach der Wiedervereinigung war ein Flopp und wurde 2015 eingestellt.
Doch dieser Misserfolg beendete die Diskussion um Zuwanderung keineswegs. Es sollten noch viele weitere Maßnahmen folgen, die eine erleichterte Einwanderung ermöglichten. Die These, dass sich mit Zuwanderung sowohl die Probleme des Arbeitsmarktes als auch die Probleme des demografischen Wandels lösen ließen, blieb unhinterfragt.
Müller weist in seinem Beitrag auf zahlreiche Unstimmigkeiten in der Argumentation der Befürworter von Zuwanderung zur Bekämpfung des Fachkräftemangels hin.
Der offensichtlichste: Es hat in den vergangenen Jahren massive Zuwanderung gegeben. Seit 2010 sind jedes Jahr Hunderttausende nach Deutschland eingewandert. Ausreißer waren die Jahre 2015 und 2022, in denen sogar die Millionenmarke gerissen wurde. An zu wenig Einwanderung können die deutschen Arbeitsmarktprobleme also eigentlich nicht liegen.
Die Bundesregierung glaubt nun, mit einer vereinfachten Einbürgerung ließe sich das Problem des Fachkräftemangels lösen – und sie wird absehbar scheitern. Denn die Maßnahme geht am Problem vorbei. Zudem, so Müller, werde mit dem aktuellen Gesetzesvorhaben die Grenze zwischen legaler und illegaler Migration weiter verwischt. Fakt jedenfalls bleibt, dass trotz umfassender Zuwanderung das Problem des Fachkräftemangels immer größer wird.
Der Gruppe der Zuwanderer steht eine Gruppe von Auswanderern gegenüber, die Deutschland jährlich verlassen. Aber der Saldo ist insgesamt positiv. Es wandern weit mehr Menschen ein als aus. Das Problem ist allerdings, dass insbesondere gut qualifizierte junge Menschen auswandern. Man bräuchte also unter den Zuwanderern einen relativ hohen Ausbildungsgrad, um den Wegzug von Fachkräften kompensieren zu können. Das sei aber nicht der Fall, weist Müller nach. Es kommen die Falschen, um das deutsche Arbeitsmarktproblem zu lösen, ließe sich zugespitzt formulieren. Eine Änderung im Einbürgerungsrecht ändert an dieser Situation erstmal nichts.
Während die Migration aus dem Schengenraum rückläufig ist, kommen vor allem Migranten aus Regionen außerhalb der EU. Um es deutlich zu sagen: Deutschland ist für vergleichsweise gut ausgebildete Arbeitskräfte aus der EU nicht attraktiv. Im Gegenteil, die zugewanderten Arbeitskräfte aus den osteuropäischen EU-Staaten wie Polen, Bulgarien und Rumänien kehren verstärkt wieder zurück in ihre Heimatländer.
"Während die Fluchtmigration seit Ende 2014 zum Bevölkerungswachstum in Deutschland beiträgt, ging die Nettozuwanderung aus dem Schengenraum der EU im gleichen Zeitraum deutlich zurück. Betrug sie 2014 noch 251.000 Personen, war sie 2021 mit 89.000 nur noch etwa ein Drittel so hoch. Lange galt der Schengenraum mit seiner Personenfreizügigkeit als Hoffnungsträger im europäischen Binnenmarkt und sollte genau das gewährleisten, was die Bundesregierung jetzt per Gesetz auf den Weg bringen will: eine möglichst uneingeschränkte und barrierefreie Arbeitsmigration von Fachkräften. Doch genau diese Barrierefreiheit sorgt derzeit für eine hohe Abwanderungsquote von Migranten aus östlichen EU-Staaten ‒ Rumänen, Bulgaren und Polen. Zugleich handelt es sich um Nationalitäten mit einer vergleichsweise hohen Erwerbstätigenquote unter den 15- bis unter 65-Jährigen. Im Jahr 2021 lag sie für Polen bei 78 Prozent, für Rumänen bei 75 Prozent, und von den Bulgaren waren mit 64 Prozent knapp zwei Drittel erwerbstätig."
Im Kontrast dazu steht das Bild der außereuropäischen Zuwanderung, vor allem aus Afghanistan und Syrien.
Das Institut der deutsche Wirtschaft (IW) fasst dieses Problem prägnant zusammen:
"Personen aus den wichtigsten Flüchtlingsherkunftsländern fällt es bisher nicht nur sehr schwer, überhaupt eine Stelle in Deutschland zu finden, sondern dass diese, wenn es ihnen gelingt, meist auch nur einen geringen Stundenumfang hat und es sich selten um einen Engpassberuf handelt."
Und das Problem verstärkt sich dadurch, dass diese für Deutschland spezifische Einwanderung wiederum eine Nachfrage nach Fachkräften generiert: Sozialarbeiter, Lehrer, Integrationsfachkräfte, usw.
Müllers Fazit liest sich wie eine Ohrfeige für das Vorhaben der Bundesregierung und die Befürworter von Zuwanderung als universelles Mittel zur Bekämpfung der deutschen Arbeitsmarktprobleme:
"Was das alles bedeutet, ist so ernüchternd, dass es kaum diskutiert und gehört werden will: Die jetzige Form der Zuwanderung lindert nicht den Fachkräftemangel, sie verschärft ihn. Sie bringt zu wenig Fachkräfte, erfordert aber einen massiven Ausbau der Infrastruktur samt den dazugehörigen Personal in Schulen, Kliniken, Ämtern und sozialen Einrichtungen."
Dass aufgrund der Fakten die Einwanderungsdebatte korrigiert wird, ist allerdings nicht zu erwarten. Denn das Thema Zuwanderung und Migration ist ideologisch in eine noch ganz andere Agenda eingebettet.
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