Über ein Jahr nach der verheerenden Flutkatastrophe müssen viele Menschen im Ahrtal in diesem Jahr zum zweiten Mal in Folge zu Weihnachten im Kalten sitzen. Die Flut im Sommer 2021 zerstörte mehrere Tausend Häuser samt Heizungsanlagen, und noch heute gibt es dort Hunderte Anwohner, die, während sie noch immer auf die Installation einer neuen Heizungsanlage warten, in den zumeist kalten oberen Stockwerken ihres zerstörten Hauses oder gar in improvisierten Containerwohnungen leben. Ein fröhliches Fest sieht anders aus. Zumal die vor Ort behelfsmäßig eingesetzten stromfressenden Heizlüfter und Radiatoren die Energierechnungen der durch die Folgen der Flut finanziell bereits gebeutelten Menschen zusätzlich in die Höhe treiben.
Gut, dass es immer noch eine große Hilfsbereitschaft gibt. Jedoch nicht – wie allgemein erwartet – von der Politik, die einen Großteil der einst versprochenen Hilfszahlungen entgegen mannigfacher Verlautbarungen in vielen Fällen noch immer nicht an die Opfer der Flut ausgezahlt hat. Nein, Hilfsbereitschaft gegenüber Bewohnern des Ahrtals zeigen stattdessen lediglich ganz normale Menschen, die etwa Brennholz spenden, sowie Hilfsorganisationen, die unter anderem Notheizungen installieren. Aber auch die gut gemeinten Bemühungen der freiwilligen Helfer reichen nicht aus, um die Not vor Ort zu lindern. So bemängelte eine Anwohnerin gegenüber der ARD zuletzt, dass viele der Häuser im Ahrtal angesichts fehlender Heizmöglichkeiten noch immer nicht bewohnbar seien.
"Die Menschen von außerhalb des Flutgebiets, im Rest von Deutschland, haben gar keine Vorstellung, wie es hier immer noch aussieht", kritisierte Iris Münn-Buschow aus Bad Neuenahr-Ahrweiler. "Wenn ich morgens am Fenster stehe, freue ich mich über jeden Lkw, der Baumaterial bringt. Es sind viele. Und trotzdem ist es immer noch viel zu wenig." Dann berichtete sie von einer älteren Frau in der Nachbarschaft: "Sie hat nur einen beheizbaren Raum." Diesen beheizt die Rentnerin mithilfe eines Radiators. "Und mithilfe einer Wärmflasche", bestätigte die Betroffene Claudia Schulzki. "Ich habe noch eine letzte ergattern können. Ja, die sind hier tatsächlich rar geworden." Angesichts der ausbleibenden Hilfe frage sie sich zunehmend, wie es in Zukunft weitergehen soll.
"Oft hat man hier einen schlechten Tag. Wenn wir dann aber die Straße runtergehen und die anderen Häuser sehen, denken wir, es geht anderen schlechter als uns."
Viele einstige Bewohner des Ahrtals hätten deshalb bereits resigniert und den nach der Flut verbliebenen kläglichen Rest der ehemals bewohnbaren Immobilen samt Grundstücken verkauft. Insbesondere deshalb, weil noch immer die für Renovierungsarbeiten dringend benötigten Gelder fehlten. "Es ist immer noch ein Problem, weil Gelder fehlen und Handwerksfirmen ausgebucht sind", ergänzte Münn-Buschow. Auch Hedwig und Oskar Gorbach feiern schon das zweite Weihnachtsfest im Ausnahmezustand. Seit einem Jahr lebt das Rentnerpaar in einer Art Containerdorf, das jedoch nicht von den Behörden, sondern im Rahmen einer Spendenaktion von freiwilligen Helfern in der Ortsmitte von Dernau aufgestellt wurde.
Ihr altes Zuhause vermisse sie sehr, zeigte sich Hedwig Gorbach betrübt, gerade an Weihnachten. In der improvisierten Containerwohnung sei nicht einmal genügend Platz, um die große Krippe aufzustellen – einen der wenigen Gegenstände der Familie, der die Flut überlebt hat. Aufgeben möchte das Paar dennoch nicht. "Wir müssen dankbar sein", sagte die gebürtige Dernauerin der ARD. Im Gegensatz zu vielen Menschen auf der Welt gehe es ihnen noch vergleichsweise gut. So könnten sie und ihr Mann die Feiertage zum Beispiel mit den Kindern verbringen, was anderen leider nicht möglich sei.
Einst hatten in dem kleinen Ort rund 600 Häuser gestanden. Dann kamen die verheerenden Wassermassen und zerstörten 90 Prozent der in Dernau stehenden Wohn- und Infrastruktur. Noch heute sei die Hälfte der Immobilien noch nicht komplett bewohn- oder nutzbar, gestand Bürgermeister Alfred Sebastian Reportern ein. Der CDU-Politiker stört sich vor allem daran, dass der Wiederaufbau noch immer viel zu langsam vonstatten geht. "Wir haben nach wie vor keinen Dorfplatz, keinen endgültigen Kindergarten, keine endgültige Schule", kritisierte er. Demnach liefen die Aufbauarbeiten zwar – aber zu zähflüssig. "Wir haben kein vereinfachtes Baurecht, verhandeln mit Versicherungen, müssen Anträge stellen und alle Aufträge ausschreiben, das alles ist viel zu kompliziert", bemängelte Sebastian.
"Und die Baufirmen warten natürlich auch nicht nur auf uns!"
So wurde die Antragsfrist für die Wiederaufbauhilfe von Bund und Ländern kürzlich zwar bis zum 30. Juni 2026 verlängert. Doch während die Politik diesbezüglich von einem Erfolg spricht, sieht der Dernauer Bürgermeister darin eine notwendige Selbstverständlichkeit: "Anders könnten wir bei all den bürokratischen Hürden, dem Material- und Handwerkermangel ja gar nichts auf die Reihe bekommen." Nach der für die Anwohner alles verändernden Flutkatastrophe, die in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 das Ahrtal in Rheinland-Pfalz und Gebiete in Nordrhein-Westfalen zerstört hatte, hatten sämtliche Politiker noch großzügige und "unbürokratische Hilfe" versprochen.
Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD), der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) sowie Nordrhein-Westfalens damaliger Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hatten damals gemeinsam mit zahlreichen anderen Politikern die Flutgebiete bereist und nahezu gebetsmühlenartig geschworen, die Betroffenen "nicht im Stich zu lassen". "Alles, was durch Geld wieder aufgebaut und ersetzt werden kann", sollte, so die Politiker, mit staatlicher Hilfe erneuert werden. Dafür sollte den Bewohnern des Katastrophengebiets ein Fonds über 30 Milliarden Euro bereitgestellt werden.
Zum Jahrestag der Flutkatastrophe verkündeten Steinmeier und Dreyer im Sommer erneut: "Wir haben Sie nicht vergessen!" Doch die meisten Opfer der Flut, die bei der Katastrophe nicht nur ihre Häuser, sondern auch Angehörige, Freunde und Nachbarn verloren haben – allein im Ahrtal gab es 134 Todesopfer –, klagen bis heute darüber, dass die zugesagte finanzielle Unterstützung nicht oder nur teilweise ausgezahlt worden sei. Auch deshalb ist die Stimmung zum Fest in der Region zweigeteilt. So gebe es zum einem diejenigen, die den Wiederaufbau geschafft oder zumindest im Griff haben, berichtete ein Anwohner der ARD. Auf der anderen Seite seien da aber auch die, die nicht vorwärtskommen. So empfänden die Menschen im Ahrtal auch dieses Weihnachten vor allem eines: dass alles wesentlich länger dauert, als sie aufgrund der sich nun als leere Versprechungen erweisenden Verheißungen der Politik ursprünglich gedacht hatten.
Das Ehepaar Gorbach stellt sich deshalb bereits jetzt schon darauf ein, auch das nächste Weihnachtsfest im Containerdorf verbringen zu müssen. Bescheiden erzogen, können die beiden jedoch selbst diesem Gedanken etwas Positives abgewinnen. "Die Hilfsorganisation versorgt uns hier optimal, außerdem bekommen wir mehr Besuch als zu Hause", berichtete Oskar Gorbach. Seine Frau ergänzt:
"Ich singe im Chor – auch an Weihnachten. Das ist eine Tradition, die mir die Flut nicht genommen hat."
Das die Ahrtaler auch in diesem Jahr leider wieder das Gegenteil eines Weihnachtsmärchens erleben müssen, liegt vor allem an der noch immer vorherrschenden Ignoranz der Politik. Als Vergleich könnte man hier gar den menschenverachtenden Ebenezer Scrooge aus Charles Dickens' Weihnachtsgeschichte heranziehen. Mit seinen Einstellungen kommt dieser den politischen Funktionsträgern des Landes heute wahrscheinlich noch am nächsten. Denn während die Menschen im Ahrtal angesichts der vielen leeren Versprechungen zu Weihnachten in diesem Jahr nach mehr als einem Jahr nahezu unglaublicher Untätigkeit der Politiker noch immer frieren müssen, genießen diese ungeachtet der Probleme der Menschen hierzulande an den Feiertagen ganz unverblümt den Luxus ihres Wohlstands, den sie – obwohl sie das gerne vergessen – lediglich der hart arbeitenden Bevölkerung zu verdanken haben.
So wundert es nicht, dass die Politiker zum Fest, statt zur Abwechslung mal an die noch immer in kalten Notunterkünften lebenden Menschen im Ahrtal zu denken, vielmehr erneut lediglich ihr eigenes Wohl im Kopf haben. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Dreyer freute sich im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa am Donnerstag zum Beispiel darüber, zu Weihnachten von ihrer Tochter bekocht zu werden. Das sei seit Jahren Tradition, "und zur Tradition gehört auch, dass sie uns damit überrascht". "Ich weiß also nicht, was es zu essen geben wird", erklärte die SPD-Politikerin, die die Festtage nicht im Kalten, sondern zusammen mit Familie und Freunden verbringen wird.
Auch bei anderen Politikern der von der Flut betroffenen Pfalz geht es in diesem Jahr, anders als bei den Flutopfern im Ahrtal, wieder festlich zu. "Zum Essen gibt es Krustenbraten mit Knödeln", sagte der CDU-Landesvorsitzende Christian Baldauf. Und auch Landtagspräsident Hendrik Hering (SPD) macht sich zu Weihnachten – im Gegensatz zu den Bewohnern des Flutgebiets – keine Gedanken darüber, ob er im nächsten Jahr über die Runden kommen wird. Stattdessen kann er sich auf feinste Köstlichkeiten freuen, die manch einem im Ahrtal aufgrund unzureichender finanzieller Mittel noch immer vorenthalten sind. "Zu Weihnachten wird es bei uns Wildgulasch mit Spätzle, Rotkraut und Feldsalat geben", freut sich der SPD-Politiker.
Der rheinland-pfälzische Arbeitsminister Alexander Schweitzer (SPD) macht sich hingegen zwar Gedanken. Jedoch nicht über die im Bundesland lebenden Menschen, sondern vielmehr um das Wohl der Tiere. "Jeder bringt was mit. Aber auf jeden Fall gibt es einen veganen Weihnachtsbraten mit süß-scharfem Rosenkohl", so Schweitzer. Bescheiden geht es zum Fest lediglich bei Gesundheitsminister Clemens Hoch (SPD) zu, der sich in diesem Jahr mit Fisch und Feldsalat zufriedengibt.
Im Ahrtal müssen sich die Menschen allerdings mit noch weniger zufriedengeben. Der Hilfsverein "Die Ahrche" wird dort deshalb auch noch nächstes Jahr aktiv sein – bald jedoch ohne Mittagessen, aber weiterhin mit Kaffee und Kuchen fürs soziale Miteinander sowie mit Hilfsangeboten und Veranstaltungen, wie Vereinsgründer Lucas Bornschlegl Reporten erklärte. An einem der letzten Tage mit einem warmen Mittagessen im großen Vereinszelt zeigte sich kurz vor Weihnachten Verbitterung. "Ich habe einen Elektromaschinenbau gehabt. Alles weg. Der Wiederaufbau lohnt sich nicht. Ich bin 74", erinnerte sich ein Mann, der seinen Namen aus Scham nicht nennen wollte. Ein anderer erzählte, dass er wegen der Zerstörung seiner vier Wände "ein Jahr auf einer Feldliege im Keller gepennt" und erst dann eine neue Wohnung gefunden habe.
Im Vergleich zum ersten Weihnachtsfest nach der Flut, also vor einem Jahr, sei die hochgelobte bundesweite Hilfswelle für das Ahrtal merklich abgeflacht. "Die mediale Aufmerksamkeit ist zurückgegangen", erklärte Bornschlegl. Doch er hat auch eine "positive Nachricht". Demnach kenne er niemanden mehr in der Kurstadt Bad Neuenahr-Ahrweiler mit nicht "wenigstens einer Ein-Raum-Heizung. Aber natürlich ist dieser Winter schon rauer gewesen als der letzte".
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