Tagesschau wundert sich über rückläufige Zuschauerzahlen

Die Hauptnachrichtensendung des deutschen Fernsehens wird am 26. Dezember 70 Jahre alt. Nach wie vor erreicht die Tagesschau eine Zuschauerzahl im zweistelligen Millionenbereich – doch es schalten weniger ein als früher. Hängt diese Entwicklung nur mit den vielen schlechten Nachrichten zusammen?

Eine Analyse von Mirko Lehmann

Anlässlich des am zweiten Weihnachtstag bevorstehenden Jubiläums der Sendung hat sich die Deutsche Presse-Agentur mit der Entwicklung der Tagesschau befasst – nicht so sehr mit allen sieben Jahrzehnten, sondern vor allem mit derjenigen der letzten Jahre. Herausgekommen ist buchstäblich ein Werbeartikel, der an servilem Lob nicht spart. Von einem ausgewogenen Sowohl-als-auch, gar von Kritik keine Spur.

Zahlen

Für die Tagesschau, die von der Redaktion ARD-aktuell produziert wird und zentral beim NDR in Hamburg angesiedelt ist, arbeiten etwa 375 Redakteure. Der NDR selbst gibt eine auf den ersten Blick vergleichsweise günstig erscheinende Zahl für die Kosten pro Sendeminute an: "rund 1.820 Euro". Gerechtfertigt werden die tatsächlich hohen Ausgaben mit der konstanten Reichweite der Sendung. So schalteten die fünfzehnminütige Hauptsendung um 20 Uhr täglich mehr als zehn Millionen Zuschauer ein. In den Corona-Jahren 2020 und 2021 sollen es laut dpa sogar täglich 11,6 Millionen gewesen sein, die die Sendung im Ersten, aber auch in den dritten Programmen der ARD verfolgten. Im zu Ende gehenden Jahr hätten die Zahlen "nur leicht darunter" gelegen. Das RedaktionsNetzwerk Deutschland spricht von 10,1 Millionen Zuschauern 2022 und nennt als Vergleichszahl 9,8 Millionen im Jahr 2019 für die Zeit vor der Corona-Krise.

Der Rückgang wird damit erklärt, dass viele Bürger ihren Nachrichtenkonsum einschränkten, weil sie nicht mehr mit schlechten Neuigkeiten konfrontiert werden wollten. Corona-Krise, Ukraine-Krieg, Klima, Wirtschafts- und Energiekrise, Inflation – die Dauerkrise führe zum "aktiven Vermeiden" von Nachrichten: ein Problem für öffentlich-rechtliche Mainstream-Medien wie die Tagesschau, die ihre Nützlichkeit beweisen und ihren Finanzbedarf zumindest formal rechtfertigen müssen.

Seit 2019 residiert die Redaktion mit ihrem mehrstöckigen "Newsroom" zudem in einem eigenen sogenannten Nachrichtenhaus auf dem Gelände des NDR. Das neu errichtete Gebäude soll rund 15,7 Millionen Euro gekostet haben.

Ein getreues Abbild der Realität?

Im Gespräch mit der dpa behauptet der Erste Chefredakteur Marcus Bornheim:

"Wenn es in der Tagesschau gesendet wird, dann ist es wirklich wichtig. Dann kann ich es auf meiner persönlichen Festplatte irgendwie abspeichern."

Genau diese gesellschaftliche Bedeutung der Sendung hat die Redaktion fest im Blick, wie Bornheim weiter vermittelt:

"Der größte Wert, den wir haben, ist unsere Glaubwürdigkeit."

Den Namen Tagesschau habe man als "Marke" etabliert. Und auch wenn längst nicht mehr nur die Fernsehsendung das einzige "Produkt" der Redaktion darstellt, so wurden die betriebswirtschaftlichen Grundsätze der Markenführung auch auf die anderen Ausspielkanäle – wie beispielsweise Internetauftritt, Videotext, Tagesschau-App und soziale Medien – übertragen: im Sinne der beanspruchten Glaubwürdigkeit. Diese ist wiederum entscheidend für den Machterhalt des zunehmend ununterscheidbaren, verfilzten Komplexes aus Massenmedien und Politikbetrieb – samt angeschlossener "Dienste".

Zwar attestiert der von der dpa befragte Medienforscher Wolfgang Schulz, seines Zeichens Direktor des ebenfalls in Hamburg ansässigen Hans-Bredow-Instituts, der Nachrichtensendung "Relevanz" in allen Altersgruppen, angeblich auch bei "jungen Zielgruppen". Nicht umsonst betreibt die Tagesschau auch einen TikTok-Kanal und andere spezielle Sendeformate, um den Anschluss nicht zu verlieren. Denn gerade in Krisenzeiten habe die Nachrichtensendung aus Hamburg eine "enorme" Bedeutung für die "Information der Gesellschaft". Der Doppelsinn des Begriffs von Information darf an dieser Stelle mitgedacht werden: Es geht um das In-Form-Bringen der Öffentlichkeit, ja die "formierte Gesellschaft" (Ludwig Erhard).

Qualitätssiegel gegen Verlust der Glaubwürdigkeit

Darüber hinaus meint der Medienforscher Schulz, die Tagesschau sei "eine Qualität-Referenz für andere Anbieter" und leiste sich, wie betont wird, angeblich keine echte Schwäche. Der Redaktion gelinge es "meist adäquat", "politische Positionen und die Lebenswirklichkeit in Deutschland" zu repräsentieren.

Damit dürfte die Torhüter-Funktion der Tagesschau in der Tat treffend beschrieben sein. Was die Tagesschau sendet, ist "relevant" – was in der Sendung nicht vorkommt, ist anscheinend unwichtig, das gibt es nicht oder hat nicht stattgefunden, zumindest nicht medial.

Aber die Tagesschau trifft nicht nur eine Auswahl dessen, was gerade als relevant oder eben irrelevant zu gelten hat. Sie setzt auch den Ton, in welcher Weise über das Berichtete gedacht und öffentlich gesprochen werden kann oder soll. All dies, frei nach Marx, aus herrschender Sicht – oder eben der Sicht der Herrschenden.

Dass die zurückgehenden Zuschauerzahlen auch etwas mit enttäuschten Erwartungen jener Zuschauer zu tun haben könnten, wird – nach außen hin – gar nicht erst in Betracht gezogen.

Denn nach über zwei Jahren regierungstreuer Hofberichterstattung beim, um dieses Beispiel zu wählen, Corona-Thema und rabiatem Niedermachen abweichender Meinungen und namhafter, seriöser Kritiker dürfte etlichen Gebühren zahlenden Zuschauern auffallen, wie sehr die Tagesschau ihr mediales Mäntelchen nach dem jeweiligen politischen Wind hängt. Oder auch, ganz im Sinne des woken, transatlantischen Mainstreams, selbst Politik zu machen sucht. Die Drehtüren stehen bekanntlich in beiden Richtungen offen.

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