Bereits vor dem Krieg in der Ukraine, mit dem nun allerhand begründet und gerechtfertigt wird, musste rund ein Fünftel der lohnabhängig Beschäftigten in Deutschland trotz Vollzeitarbeit mit Niedriglohn auskommen. Durch die Vermeidung selbst des Mindestlohns durch zahlreiche Unternehmen ergab sich laut DGB schon im Jahr 2015 in Deutschland ein Gesamtverlust aus geringerer Kaufkraft, Steuerausfällen und geringeren Einzahlungen in die Sozialversicherungen in zweistelliger Milliardenhöhe.
In diesem Jahr zehrt zudem die anhaltend hohe Inflationsrate einer Studie zufolge Lohnzuwächse in einem ungekannten Ausmaß auf. Tarifbeschäftigte haben damit unter dem Strich real noch weniger Geld zur Verfügung. Nach einer vorläufigen Bilanz des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) handelt es sich um einen "in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bislang einzigartigen Reallohnverlust".
Die Teuerungsrate verlor im November zwar etwas an Tempo, blieb nach bestätigten Daten des Statistischen Bundesamtes mit bereits 10,0 Prozent gegenüber dem Vorjahr aber weiter zweistellig. Nach Angaben des WSI-Tarifarchivs der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung steigen die Tariflöhne in Deutschland 2022 gegenüber dem Vorjahr nur um durchschnittlich 2,7 Prozent. Angesichts einer zu erwartenden Steigerung der Verbraucherpreise um 7,8 Prozent im Jahresschnitt ergebe sich hieraus eine durchschnittliche Verringerung der Einkünfte um 4,7 Prozent bei den tarifvertraglich vereinbarten Reallöhnen.
Zum einen hätten in diesem Jahr aufgrund langfristig wirksamer Tarifverträge in vielen Branchen gar keine neuen Tarifverhandlungen stattgefunden, erläuterte der Leiter des WSI-Tarifarchivs Thorsten Schulten. "Andererseits werden aktuell vereinbarte, deutlich stärkere Tariferhöhungen und Inflationsprämien oft erst ab 2023 wirksam."
Im kommenden Jahr können Beschäftigte nach seiner Einschätzung auf insgesamt deutlich höhere Tarifzuwächse hoffen. Hierauf deutetet zum einen eine Reihe aktueller Abschlüsse etwa in der chemischen Industrie und in der Metall- und Elektroindustrie hin. Zudem lasse sich auch bei den kommenden Verhandlungen wie etwa im öffentlichen Dienst (Bund und Gemeinden), bei der Deutschen Post AG oder in der Nahrungsmittelindustrie eine Tendenz zu deutlich höheren Tarifforderungen seitens der Gewerkschaften als Tarifpartner beobachten, sagte der Experte.
Die Inflation in Deutschland wird seit Monaten insbesondere von hohen Energie- und Lebensmittelpreisen angetrieben. "Wir beobachten zunehmend auch Preisanstiege bei vielen anderen Waren neben der Energie", erläuterte Georg Thiel, der Präsident des Statistischen Bundesamtes, in Wiesbaden am Dienstag.
Energie kostete im November durchschnittlich 38,7 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Der Preisanstieg schwächte sich nach einer Rekordsteigerung um 43 Prozent im Oktober damit etwas ab. Für Nahrungsmittel mussten Verbraucher 21,1 Prozent mehr zahlen als im November 2021. Seit Jahresbeginn hat sich der Preisauftrieb den Angaben zufolge hier schrittweise verstärkt.
Insgesamt stiegen die Verbraucherpreise im November gegenüber dem Vorjahresmonat um 10,0 Prozent. Im Oktober hatte die Jahresinflationsrate mit 10,4 Prozent den höchsten Stand seit etwa 70 Jahren erreicht. Im Vergleich zum Vormonat sanken die Verbraucherpreise im November insgesamt um 0,5 Prozent.
Volkswirte sehen in der leichten Entspannung noch keinen Grund zur Entwarnung. Viele Ökonomen rechneten zuletzt erst im Frühjahr 2023 mit einem deutlicheren Rückgang der Teuerung. Bundesbankpräsident Joachim Nagel geht davon aus, dass die Inflationsrate in Deutschland auch im kommenden Jahr hoch bleibt.
"Ich halte es für wahrscheinlich, dass im Jahresdurchschnitt eine Sieben vor dem Komma stehen wird", sagte er jüngst.
Hohe Teuerungsraten schmälern die Kaufkraft der Verbraucher. Die Menschen können sich für einen Euro weniger leisten. Bei einer YouGov-Umfrage unter mehr als 2.000 Befragten in Deutschland gaben im November 23 Prozent an, in den vergangenen drei Monaten meistens oder immer Schwierigkeiten beim Lebensmitteleinkauf gehabt zu haben. Mehr als die Hälfte (59 Prozent) haben nach eigenen Angaben bei den gewohnten Ausgaben bereits den Rotstift angesetzt. Gut zwei Drittel (67 Prozent) der Verbraucher gehen davon aus, ihre Ausgaben weiter zu verringern.
Im Gegensatz zu der häufig von unternehmernahen Instituten vorgebrachten, angeblichen Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale liegt hier eher eine andere Dynamik zugrunde. So sieht eine Analyse des Ifo-Instituts neben den gestiegenen Kosten auch höhere Gewinne der Unternehmen als Treiber der aktuellen Inflation.
"Einige Unternehmen scheinen den Kostenschub als Vorwand dafür zu nehmen, durch eine Erhöhung ihrer Absatzpreise auch ihre Gewinnsituation zu verbessern", erklärte Ifo-Experte Joachim Ragnitz.
Dies dürfte die Inflation besonders verstärkt haben. Allerdings stellt er auch klar, dass die Inflation insgesamt "zu einem ganz erheblichen Teil" tatsächlich auf die gestiegenen Kosten der Unternehmen zurückzuführen sei. Man könne bisher nur vorläufige Aussagen über das tatsächliche Ausmaß des zusätzlichen Faktors treffen.
Die Bundesregierung will die Belastungen für Verbraucher und Unternehmen durch die hohen Energiepreise mit milliardenschweren Entlastungspaketen abfedern. Dazu zählen auch die ab dem kommenden Jahr geplanten Gas- und Strompreisbremsen. Der Bundestag und der Bundesrat sollen darüber zum Ende dieser Woche beschließen. Für private Haushalte und kleine und mittlere Firmen sollen die Preisbremsen ab März gelten, für Januar und Februar ist dann noch rückwirkend eine Entlastung geplant. Für große Industrieverbraucher soll die Gaspreisbremse bereits ab Januar greifen.
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