Ein Regierungssprecher gilt als einer der wichtigsten Berater und regelmäßiger Verkünder von Regierungsentscheidungen und Mitteilungen eines amtierenden Bundeskanzlers. Während ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft machte Angela Merkel (CDU) den ehemaligen Nachrichtensprecher des ZDF, Steffen Seibert, zu dem am längsten amtierenden Regierungssprecher der Bundesrepublik Deutschland.
Es ist eine bekannte Tatsache, dass das politische Berlin seit Jahrzehnten ausgewählte Journalisten in limitierten Hintergrundkreisen über beabsichtigte Vorhaben oder Neuerungen exklusiv informiert. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) beleuchtet in einem aktuellen Artikel dieses Phänomen. Dazu heißt es im Beitrag:
"Doch als sich zu Beginn des Jahres 2020 abzeichnete, dass das Coronavirus ein größeres Problem werden könnte und dass namentlich die Bundeskanzlerin sehr harte Gegenmaßnahmen für geboten hielt, nahm man die gezielte Information ausgewählter Journalisten wieder auf."
In einem seiner Artikel betitelte Der Tagesspiegel aus Berlin Merkels Sprecher Seibert als "Synchrontänzer der Kanzlerin". Die NZZ konnte aus Kreisen beteiligter Journalisten erfahren, dass im März 2020 "der damalige Regierungssprecher 20 bis 25 Kollegen zu einem Zoom-Meeting mit Merkel eingeladen" hatte. Der NZZ-Artikel erinnert an die von Merkel vorgegebene Tonlage einer bestimmten Stimmung im Land:
"Deswegen lassen Sie mich sagen: Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt."
Der Tagesspiegel-Beitrag benennt eindeutige Mechanismen und beabsichtigte Manipulationen, ausgehend von der anvisierten Strategie aus dem Bundeskanzleramt, entsprechenden Druck durch mediale Berichterstattungen auf die Politik der einzelnen Ministerpräsidenten aufzubauen. So heißt es:
"Aber hinter den Kulissen wird natürlich gezielt versucht, Spins (eine unterschwellig manipulierte Darstellung) zu setzen, wenn es der Sache oder der Kanzlerin dient. Am Tag vor wichtigen Bund-Länder-Corona-Schalten wurde wiederholt einer zusammengerufenen Journalistengruppe die Sichtweise des Kanzleramts, dass strenge Lockdown-Maßnahmen nötig sind, so eindringlich dargestellt, dass es zum Gipfeltag in Zeitungen und Onlineportalen stand."
Neben den ausgesuchten Journalisten fand Merkel zudem in der Besitzerin des einflussreichen Springer-Verlags, Friede Springer, eine mächtige Verbündete im Geiste. So verriet der im Oktober 2021 geschasste ehemalige Chefredakteur der Bild-Zeitung, Julian Reichel, erst jüngst die versuchte Einflussnahme seiner damaligen Chefin auf die Corona-Berichterstattung des Blattes:
"Friede Springer hatte die Vorstellung, dass die Bild in der beginnenden Corona-Krise ab sofort unterstützend für die Bundesregierung und für die Kanzlerin berichten sollte. Und das war nicht meine Auffassung von Journalismus."
Angela Merkel galt als sehr ängstlich gegenüber dem Thema Corona. Dadurch entwickelte sich im politischen Berlin des Frühjahrs 2020 eine nachweislich harte Maßnahmen-Linie, unabhängig davon, dass von einzelnen Bundesländern zumindest vorsichtige Kritik an den damaligen Strategien geäußert wurden. Die Medien wurden als effektiver Multiplikator des eingeforderten Weges dringend benötigt. Nach dem verordneten Lockdown, den Einschränkungen und Schließungen von gesellschaftlichen Teilbereichen, und daraus resultierenden Diskussionen über Lockerungen der Beschränkungen, prägte Merkel verbal diese Zeit mit ihrer persönlichen Wahrnehmung. So titelte Die Zeit im April 2020:
"Angela Merkel: Bundeskanzlerin kritisiert 'Öffnungsdiskussionsorgien'"
Der NZZ-Artikel verweist auf den Anspruch der deutschen Presse "auf Gleichbehandlung im publizistischen Wettbewerb". In einem der NZZ vorliegenden Gutachten des "Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages" heißt es diesbezüglich, dass der Staat Pressevertreter …
"… im Rahmen der Informations- und Pressetätigkeit in Bezug auf Zeitpunkt, Inhalt und Umfang grundsätzlich gleichbehandeln muss (…) Die Informationsweitergabe aus eigener Initiative und eigener Themenauswahl darf 'nicht auf eine Reglementierung oder Steuerung der Medien oder eines Teils von ihnen' hinauslaufen."
Sei aus bestimmten Gründen eine Auswahl oder Beschränkung von Teilnehmerzahlen nötig, so müsse diese auf "meinungsneutralen und sachgerechten" Kriterien beruhen, so die Inhalte des Gutachtens laut der NZZ. Es müsse daher die Frage gestellt werden, ob …
" … die Auswahl der Medienvertreter 'meinungsneutral und sachgerecht' erfolgte, oder ob man kritische Journalisten lieber nicht dabeihaben wollte."
Es wäre daher von unabdingbarem öffentlichem Interesse, "nach welchen Kriterien die Auswahl stattfand". Eine entsprechende Anfrage der NZZ, "die, wie viele andere deutschsprachige Medien, zu keiner der geschlossenen Runden eingeladen war", wurde von einem Sprecher des Bundespresseamts wie folgt beantwortet:
"Regierungssprecherinnen und Regierungssprecher informieren im Rahmen des verfassungsmäßigen Informationsauftrags regelmäßig Journalistinnen und Journalisten in einer Vielzahl von Formaten über die Politik der Bundesregierung. Dies findet u. a. in Präsenz, telefonisch oder auch online statt. Die Inhalte und organisatorischen Einzelheiten werden weder dokumentiert noch statistisch erfasst."
Dies kann nur als "Nicht-Antwort" ohne Informationswert bewertet werden. Auf die Nachfrage der NZZ, "ob eine selektive Information der Presse zu Corona-Themen unter der Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz weiterhin stattfinde", antwortete das Bundespresseamt:
"Soweit wir es nachvollziehen können, hat es in der aktuellen Legislaturperiode vor 'Bund-Länder-Corona-Schalten' keine Treffen von Regierungssprechern mit Journalisten gegeben."
Steffen Seibert wurde nach dem Ende seiner Tätigkeit als Regierungssprecher im Juli 2022 zum Deutschen Botschafter in Israel ernannt.
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