Berlin hat die Behauptung des ehemaligen britischen Premierministers Boris Johnson, Deutschland hätte eine rasche Kapitulation der Ukraine vor Russland gewollt, als "völligen Unsinn" bezeichnet. Regierungssprecher Steffen Hebestreit reagierte damit am Mittwoch auf die Äußerungen Johnsons in einem Interview mit dem US-Sender CNN, in dem er unter anderem andeutete, dass sich die Bundesregierung aus wirtschaftlichen Gründen ein schnelles Ende des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine gewünscht habe. Hebestreit trat der Behauptung mit den Worten entgegen:
"Wir wissen, dass der sehr unterhaltsame frühere Premier immer ein eigenes Verhältnis zur Wahrheit hat – das ist auch in diesem Fall nicht anders."
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die Bundesregierung insgesamt hätten sich für substanzielle Waffenlieferungen an die Ukraine entschieden, von daher "sprechen die Fakten gegen diese Unterstellung", ergänzte der Regierungssprecher.
Auf die Frage von Journalisten, ob er Johnson als Lügner bezeichnen würde, bekräftigte Hebestreit seine vorherige Aussage, antwortete aber nicht direkt auf die Frage. So sagte er: "[Johnson] hat immer einen sehr persönlichen Zugang zur Wahrheit." Hebestreit fügte hinzu, dass er dies "aus erster Hand" wisse, da er "nur wenige Tage vor Kriegsbeginn an Gesprächen mit dem damaligen britischen Premierminister in München teilgenommen hat".
Die Aussagen machte Johnson dem Sender zufolge bereits am Montag gegenüber CNN Portugal. Sie erreichten aber erst am Mittwoch ein größeres Publikum. So erzählte Johnson in einem Gespräch mit dem CNN-Moderator Richard Quest in Lissabon, dass Deutschland "zu einem bestimmten Zeitpunkt" der Ansicht gewesen sei, dass – "wenn ein Krieg in der Ukraine ausbrechen würde, was eine Katastrophe wäre – es besser wäre, wenn die ganze Sache schnell vorbei wäre und die Ukraine zusammenbrechen würde". Berlin stützte seine Position auch mit "allen möglichen guten wirtschaftlichen Gründen", fügte der ehemalige britische Regierungschef hinzu.
Hebestreit konterte am Mittwoch, dass eine solche Behauptung schlichtweg nicht den Tatsachen entspreche. Bundeskanzler Scholz und seine Regierung hätten "mit einer jahrzehntelangen Praxis in diesem Land gebrochen, keine Waffen in Krisenregionen und Kriegsgebiete zu schicken", betonte er und fügte hinzu, dass die deutsche Militärhilfe für Kiew "sowohl qualitativ als auch quantitativ beispiellos" sei.
Nach dem Beginn der russischen Militäraktion in der Ukraine schloss sich Deutschland allen westlichen Sanktionen gegen Moskau an und lieferte massive Mengen an Waffen an Kiew, darunter sowohl Kleinwaffen und Artillerie als auch Luftabwehrsysteme. Scholz und seine Regierung wurden jedoch sowohl von Kiew als auch von zahlreichen deutschen Politikern häufig dafür kritisiert, dass sie angeblich nicht alle von der Ukraine angeforderten Waffensysteme liefern wollten.
Neben Deutschland hatte Johnson in diesem Gespräch mit dem CNN-Moderator auch Frankreich und Italien für ihre Haltungen kritisiert. So habe Paris laut dem britischen Ex-Premierminister seinerseits die Wahrheit nicht erkennen wollen und die Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts in der Ukraine "bis zum letzten Moment geleugnet". Die damals von Mario Draghi geführte Regierung in Italien habe laut Johnson einmal "einfach gesagt, sie könne ihre Position nicht weiter vertreten", weil sie "enorm" von russischen Energieträgern abhängig sei.
London zählt inzwischen zu den größten Waffenlieferanten der Ukraine. Zugleich bilden die britischen Streitkräfte auch ukrainische Soldaten in Großbritannien aus. Johnson selbst hatte Kiew in den vergangenen Monaten mehrmals besucht.
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