Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat eine für seine Verhältnisse erstaunliche Kehrtwende hingelegt und sich am Mittwoch in Berlin von den Kita-Schließungen in der ersten Corona-Welle distanziert. Anlässlich der Veröffentlichung der "Corona-KiTa-Studie" erklärte Lauterbach nun:
"Das Schließen von Kitas ist definitiv medizinisch nicht angemessen und wäre auch in dem Umfang, wie wir es damals gemacht haben, nach heutigem Wissen nicht nötig gewesen."
Während der Veröffentlichung des Abschlussberichts der Studie gemeinsam mit Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/ Die Grünen) versprach Lauterbach:
"Es wird keine Schließungen dieser Art mehr geben."
Paus stellte fest, dass die Kinder in der Corona-Krise bereits erheblich gelitten haben – "oft weniger am Virus selbst als an den Folgen der Eindämmungsmaßnahmen". Jene Kinder, die am meisten von frühkindlicher Bildung und Förderung hätten profitieren können, litten der Studie zufolge besonders schwer an den Folgen der Corona-Maßnahmen. Den Untersuchungen zufolge haben insbesondere Kinder aus sozial benachteiligten Familien im Vergleich zu der Zeit vor Corona jetzt einen fast doppelt so hohen Förderbedarf im Bereich der Sprache, der Motorik und ihrer sozialen und emotionalen Entwicklung.
"In Zukunft muss das Kindeswohl unbedingt an oberster Stelle stehen", sagte Paus.
Die von beiden Ministerien finanzierte und vom Deutschen Jugendinstitut und dem Robert Koch-Institut durchgeführte Studie lief vom Sommer 2020 bis zum Juni dieses Jahres. In der Studie wurden die Auswirkungen von COVID-19 und der Corona-Maßnahmen auf die Kindertagesbetreuung sowie die Kinder und ihre Familien aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht. Ermittelt wurde, wie oft Kinder im Kita-Alter an Corona erkrankten, wie empfänglich sie für das Virus und wie schwer die Krankheitsverläufe sind.
Den Untersuchungen zufolge folgten die festgestellten Testzahlen eher denen der Gesamtgesellschaft als umgekehrt. Die Inzidenz blieb durchgängig unterhalb der Inzidenz älterer Kinder und Jugendlicher. Lauterbach stellte daraufhin fest:
"Kitas waren keine Infektionsherde."
Dem Gesundheitsminister zufolge waren die Übertragungsraten in Kitas im Vergleich zu den Familien deutlich unterdurchschnittlich. Kinder im Kita-Alter zeigten bei einem positiven Test auch meist nur wenige oder gar keine Symptome. Lauterbach stellte jedoch klar, er halte nichts von Schuldzuweisungen. Bundesregierung und Länder hätten das damals gemeinsam beschlossen. Jetzt sei man mit neuen Erkenntnissen zu dem Schluss gekommen, dass es nicht nötig gewesen wäre. Man müsse nun "nach vorne denken".
Weiterhin erklärte der Gesundheitsminister, dass es keinen Grund zur Entwarnung, sondern "allenfalls eine Atempause" gebe. Die Krankenhäuser arbeiten "am Limit" und neue Varianten "bauen sich auf", doch durch die Impfungen sei man "gut vorbereitet". Kurz nach der Pressekonferenz trendete #Lauterbachrücktrittsofort auf Twitter. In den sozialen Medien warfen ihm zahlreiche Nutzer vor, dass die Erkenntnisse zu den Kita-Schließungen zu spät kämen. Sie erinnerten den Minister an die Folgen für die Kinder. So kommentierte etwa der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit (Schreibweise jeweils wie im Original):
"Das Kitas keine '#Pandemie Treiber' waren ist keine Neuigkeit und das die #Kita Schließungen in Deutschland unnötig waren und zu gravierenden Problemen geführt haben ist auch schon länger bekannt."
Der Epidemiologe Friedrich Pürner schrieb:
"Zu spät! Viel zu spät. Vor knapp 1,5 Jahren haben erfahrene Ärzte und Epidemiologen davon gewusst. Weshalb wusste dies @Karl_Lauterbach nicht?"
Einige Nutzer erinnerten an Lauterbachs frühere Tweets, die das Gegenteil der heutigen Studie beinhalteten:
"Auch Satz, 'Kinder keine Treiber der Pandemie', ist falsch. Sie sind es genauso viel wie Erwachsene, das ist leider so, durch Studien klar belegt. […]"
Andere wiederum wiesen auf die Konsequenzen hin:
"Warum mussten dann von November 2021 bis März 2022 Kita-Kinder (manchmal schreiend und weinend) von ihren Müttern morgens in der Dunkelheit zum Testen gebracht werden?"
Zahlreiche Personen wiesen auch auf den medialen Diskurs hin:
"Auf einmal? Wer das vor wenigen Wochen behauptet hat, galt als Verschwörungstheoretiker und Nazi. Und jetzt?"
Außerdem kursierten Vergleiche mit einem bekannten Ausspruch des ehemaligen Stasi-Chefs Erich Mielke:
"Da rudert einer zurück. Was ist eigentlich mit dem Herrn Mielke passiert ?"
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