Eine Analyse von Susan Bonath
Wer Hartz IV benötigt, muss sich bis aufs Kleingeld im Nachtschrank und Omas Tafelsilber durchleuchten lassen. Mehr als 5,6 Millionen Menschen in Deutschland sind betroffen; die Dunkelziffer derer, die es aus Scham oder Angst nicht beantragen, obwohl sie Anspruch darauf hätten, könnte hoch sein. Es heißt zuweilen, Hartz-IV-Bezieher bekämen alles erstattet. Das stimmt mitnichten: Aktuell ist völlig unklar, wie die einzelnen Jobcenter mit den steigenden Kosten umgehen werden. Klare Regelungen fehlen völlig.
Die Praxis kann regional sehr unterschiedlich sein. Denn die Städte und Kommunen legen die sogenannten Grenzen der Angemessenheit, also die Obergrenzen für Wohn- und Heizkosten fest, aus ihren Kassen fließt auch diese Leistung. Die Regelsätze, die derzeit zwischen 285 Euro für ein Kleinkind und 449 für einen alleinstehenden Erwachsenen liegen, sind hingegen Bundesmittel. Insgesamt gibt es in Deutschland derzeit 408 Jobcenter, die alle unterschiedlich mit den Betroffenen verfahren könnten.
Sture Behörden
Ereilt Betroffene nun eine Nachforderung für Heiz- und Warmwasserkosten, müssen sie – am besten umgehend – einen schriftlichen Antrag auf Übernahme dieser Forderung zusammen mit einer Kopie des Vermieter-Schreibens beim Jobcenter einreichen, um überhaupt Gehör zu erhalten. Und hier beginnen die Probleme: Eine beliebte Erststrategie dieser Behörden ist nämlich das vorläufige Aussitzen. Es kann dauern, bevor man eine Antwort erhält. Wer nicht zahlen kann, sollte zugleich seinen Vermieter um Aufschub bitten.
Die nächste Tücke sind die vielerorts schon jetzt von den Kommunen sehr niedrig bemessenen Mietobergrenzen für Bezieher von Grundsicherung aller Art. Etwa ein Sechstel der Hartz-IV-Haushalte bekam bereits in der Vergangenheit die volle Miete nicht erstattet, weil sie teurer war. Viele dürften mit ihren Wohnkosten deshalb bereits am oder über dem Limit liegen. Die Nachforderung sprengt in diesem Fall die Obergrenzen. Und hier könnte es schwierig werden, wenn das Amt sich stur stellt – was nicht so selten ist.
Niedrige Mietobergrenzen
Das Problem mit den niedrigen Mietobergrenzen aber bleibt bestehen. Eigentlich müssten die Kommunen auf die gestiegenen Gaspreise umgehend reagieren und diese Grenzen erhöhen. Bisher allerdings ist der Autorin noch nichts Entsprechendes bekannt geworden. Seit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 hinken laut Kritik zahlreicher Sozialverbände die genehmigten Warmmieten hinter der Realität zurück.
Ein Beispiel ist Leipzig: Die Stadt hatte zuletzt Mitte des vergangenen Jahres die Mietobergrenzen für Bezieher von Hartz IV und Sozialhilfe marginal erhöht. Ob es für das Geld überhaupt noch Wohnungen in der nordsächsischen Metropole gibt, ist allerdings mehr als fraglich.
Demnach darf beispielsweise ein Alleinstehender für die Miete inklusive der sogenannten kalten Betriebskosten höchstens 314 Euro und sieben Cent ausgeben. Hinzu kommen maximal 50,72 Euro Heiz- und Warmwasserkosten pro Monat. Einem Zwei-Personenhaushalt gewährt die Stadt für letzteres knapp 68 Euro, eine dreiköpfige Familie soll mit gut 84 Euro auskommen, und das Limit für einen Vier-Personenhaushalt beträgt rund 96 Euro. Das könnte angesichts der Preisexplosion mehr als eng werden.
Auch Nicht-Hartz-IV-Bezieher könnten Anspruch haben
Der Experte für Erwerbslosen-Recht und Sprecher des Sozialvereins "Tacheles", Harald Thomé, sieht das Problem ähnlich. In einer Pressemitteilung per E-Mail betonte er Ende Juli jedoch, sowohl Jobcenter als auch Sozialämter seien verpflichtet, die vollständigen Kosten zunächst zu übernehmen. Denn bevor sie die Übernahme der Nachforderung ablehnen dürfen, müssten sie Betroffenen in einem gesonderten Verfahren ein halbes Jahr Zeit einräumen, ihre "Kosten zu senken", in aller Regel durch einen Umzug.
Was kaum jemand weiß: Auch Geringverdiener, die kein Hartz IV erhalten, könnten einen Anspruch auf die Übernahme von Heizkosten-Nachforderungen mittels dieser Leistung haben. Thomé führte dazu ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) aus dem Jahr 2010 an. "Das Gericht sagt dazu, dass Nachzahlungen aus Neben- und Heizkostenabrechnungen immer ein Bedarf im Monat der Fälligkeit sind und es dabei unerheblich ist, wann die Kosten entstanden sind", so der Sozialrechtler.
Mit anderen Worten: Kommt jemand mit seinem Einkommen gerade so über die Runden und ist sein Lebensunterhalt durch die Nachzahlung gefährdet, könnte er in diesem Monat einen Antrag auf Arbeitslosengeld II bei dem Jobcenter stellen, das für seinen Wohnort zuständig ist. Hintergrund ist Thomé zufolge die gesetzliche Regelung, wonach das Jobcenter zunächst die tatsächlichen Kosten der Unterkunft übernehmen muss. Der Betroffene hätte also in diesem Monat einen höheren Bedarf als gewöhnlich, den das Amt in seine Berechnung einbeziehen muss.In diesem Zusammenhang betont Thomé:
"Das ist vielen Verdienenden nicht bekannt und muss dringend öffentlich gemacht werden."
Dafür seien seiner Meinung nach die Behörden selbst, die Sozialberatungsstellung und auch die Medien zuständig. Dies geschehe aber vielfach nicht.
Widerspruch einlegen
Niemand solle sich scheuen, diese Möglichkeit zu nutzen, um eine drohende Notlage zu verhindern, so Thomé. Aber er mahnte auch: Betroffene müssten den Antrag spätestens im Monat der Fälligkeit der Kosten stellen, weil der Anspruch sonst verfalle. Wenn das Amt sich stur stellt, rät Thomé in jedem Fall dazu, ablehnenden Bescheiden, die, wenn überhaupt, oft unverständlich begründet sind, zu widersprechen.
BA fühlt sich nicht zuständig
Angesichts der sich abzeichnenden massenhaften Notlagen müsste eigentlich der Gesetzgeber eingreifen. Doch dafür gibt es bisher keine Anhaltspunkte. Lediglich eine Einmalzahlung von 200 Euro dürfte inzwischen auf den Konten der meisten Hartz-IV-Bezieher eingegangen sein – kaum mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Allerdings folgt einer hohen Nachforderung in der Regel eine dauerhafte Mieterhöhung.
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) könnte mit einer entsprechenden Weisung den ihr – teilweise – unterstehenden Jobcentern auferlegen, vorläufig Mieten über die bisherigen Obergrenzen hinaus zu erstatten. Auf Anfrage der Autorin erklärte jedoch ein Behördensprecher, der seinen Namen nicht öffentlich lesen will, die BA für nicht zuständig. Er erklärte:
"Die alleinige Verantwortung liegt bei den kreisfreien Städten und Kreisen als Träger. Der Bundesagentur für Arbeit steht es nicht zu, die dortigen rechtlichen Vorgaben zu bewerten."
Mit anderen Worten: Jede Kommune geht so vor, wie es ihr beliebt. Oder fast: Das BSG urteilte bereits vor Jahren, dass Kommunen ihre festgelegten Obergrenzen mit einem sogenannten schlüssigen Konzept begründen müssen. Heißt: Die Städte und Landkreise sollen nachweisen, dass es in ihrem Einzugsbereich überhaupt Wohnraum für diese Preise gibt. In der Regel beauftragen die Kommunen dafür ein Unternehmen, das natürlich interessengeleitet arbeitet: möglichst niedrige Obergrenzen.
Sozialgerichte hatten in der Vergangenheit immer wieder solche Konzepte verworfen. Meist gab es dann ein neues Papier mit kaum höheren Obergrenzen. Und die Klagewege sind lang, bis zu einer Entscheidung kann es Jahre dauern. Hinzu kommt, dass es im Sozialrecht für Hartz-IV-Bezieher keine aufschiebende Wirkung gibt. Das bedeutet: Ein Widerspruch führt nicht dazu, dass ein Jobcenter erst mal zahlen muss.
Corona-Sonderregel für Wenige
Der BA-Sprecher, der namentlich nicht genannt werden will, wies ebenfalls darauf hin, dass "unangemessen hohe Aufwendungen" für eine Übergangszeit anzuerkennen seien. Und zwar "solange es den leistungsberechtigten Personen nicht möglich oder nicht zumutbar ist, die Aufwendungen durch einen Wohnungswechsel, durch Untervermieten oder auf andere Weise zu senken." Und: Es gehe immer um Einzelfallentscheidungen im Ermessen der Jobcenter.
Mit solchen Kann-Bestimmungen ist das Zweite Sozialgesetzbuch übersät. Damit hat der Gesetzgeber den Jobcentern Tür und Tor für Willkür aller Art geöffnet. Jedoch gebe es, so erklärte der BA-Sprecher weiter, aktuell noch eine Sonderregelung wegen der Corona-Pandemie, die bis Jahresende gilt. Bestimmte Leistungsberechtigte, die ab dem 1. März 2020 einen Antrag auf Hartz IV stellen mussten und das Geld jeweils nur für sechs Monate Bezüge bewilligt bekommen, müssen danach die vollständigen Mietkosten erhalten.
Der Anteil dieser Personengruppe dürfte aber recht überschaubar sein. Den meisten Betroffenen bewilligen Jobcenter die Leistungen in der Regel für ein Jahr, sofern sie kein unregelmäßiges Einkommen verdienen. Der überwiegende Teil ist auch länger als ein halbes Jahr auf Hartz IV angewiesen. Abschließend legte der BA-Sprecher den Betroffenen ans Herz:
"Die BA empfiehlt dringend, sich an das für sie zuständige Jobcenter zu wenden."
Das prüfe dann, "ob die Abschläge beziehungsweise Nachzahlungen in voller Höhe bezuschusst werden können." Mit etwas Glück stößt man dann auch auf einen verständnisvollen Sachbearbeiter – wenn man Pech hat, allerdings nicht.
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