Fast jeder zweite Bürger in Deutschland will wegen der hohen Energiepreise auf die Straße gehen, falls es zu Demonstrationen kommt. 44 Prozent aller Befragten sagten laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA, sie würden "sicher oder mit großer Wahrscheinlichkeit an Demonstrationen gegen die hohen Energiepreise teilnehmen".
Vor allem Wähler der AfD (72 Prozent), der Linken (60 Prozent) und der FDP (50 Prozent) wollen an Demonstrationen teilnehmen und halten Protest für notwendig. 50 Prozent aller Befragten lehnten allerdings eine Teilnahme an Demonstrationen ab. Begründungen wurden in der Umfrage nicht genannt. Zuvor hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vor Protesten gewarnt und diese schon einmal prophylaktisch im rechten Lager verortet: Gegenüber dem Handelsblatt stellte sie eine Verbindung zwischen kommenden Protesten, Corona-Demonstrationen und Rechtsextremen her, und sagte:
"Natürlich besteht die Gefahr, dass diejenigen, die schon in der Corona-Zeit ihre Verachtung gegen die Demokratie herausgebrüllt haben und dabei oftmals Seite an Seite mit Rechtsextremisten unterwegs waren, die stark steigenden Preise als neues Mobilisierungsthema zu missbrauchen versuchen."
Faeser kündigte weiterhin an:
"Wir sind vorbereitet, auch auf mögliche neue Protestgeschehen."
Ein Sprecher Faesers erklärte zudem gegenüber der taz:
"Je nach Entwicklung der Energieversorgungssituation und der sozialen Folgen der Kostensteigerungen ist eine Entwicklung zu einer mit den Corona-Protesten vergleichbaren Größenordnung möglich."
Auch Stephan Kramer, Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, warnte vor den Auswirkungen der aktuellen Krisen auf die innere Sicherheit. Infolge eines Gasnotstandes könne auch die Industrie zusammenbrechen und dadurch die Arbeitslosigkeit dramatisch ansteigen. Die Folgen wären "vernichtete Existenzen", so Kramer gegenüber der taz. Die Konsequenzen, wenn es dann noch zu großflächigen Stromausfällen komme, "muss ich wohl nicht ausformulieren".
Kramer ist der Ansicht, dass man nach "den katastrophalen Erfahrungen bei der Krisenbewältigung" nach der Flutkatastrophe im Ahrtal vor einem Jahr erwarten könne, dass "das öffentliche Leben in weiten Teilen zusammenbricht":
"Es wird spannend, wie dann die Versorgung sichergestellt und vor allem die öffentliche Sicherheit und Ordnung gewährleistet werden soll."
Außerdem könnte es noch zu neuen Corona-Maßnahmen und Migrationsbewegungen kommen. In einigen Ländern hat die Protestwelle bereits begonnen: Zuletzt kam es in Frankreich zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten aus dem Gelbwesten-Umfeld. Die Demonstrationen richten sich gegen die steigenden Preise für Lebensmittel, Benzin und Energie. Gefordert wurden aber auch Entschädigungsfonds für die Opfer staatlicher Gewalt sowie Amnestie für "zu Unrecht verurteilte Gelbwesten".
In den Niederlanden protestieren Bauern seit Wochen gegen die Regierung. Im Kern richten sich die Proteste gegen eine Gerichtsentscheidung, nach der der Stickstoffanteil der Böden in den Niederlanden zu hoch ist, was gegen EU-Verordnungen verstoße. Laut Schätzungen könnten durch die von der Regierung verordneten Maßnahmen rund 30 Prozent der niederländischen Bauern ihre Existenzgrundlage verlieren. Bei den Protesten kommt es immer wieder zu gewaltvollen Zusammenstößen mit der Polizei. Zu besonders heftiger Kritik an den Beamten kam es, nachdem Polizisten ohne erkennbaren Grund auf einen 16-Jährigen geschossen hatten.
Wie das Nachrichtenportal EuroWeekly berichtet, schlossen sich auch Bauern in Spanien, Italien und Polen den Protesten an. Durch die Streiks in den Niederlanden werden in vielen spanischen Supermärkten die Lebensmittel knapp. In Italien blockierten Bauern kürzlich den Verkehr in Mailand mit einem Traktoren-Konvoi, aber auch in Rom und anderen italienischen Städten kam es zu Protesten. Viele Landwirte in Italien sind in Existenznöten. Grund dafür ist auch eine schwere Dürre, die bisher ein Drittel der landwirtschaftlichen Erzeugnisse gefährdet. Den Bauern zufolge beträgt der Verlust aufgrund der Krise rund drei Milliarden Euro.
Auch die Linke bereitet sich laut dpa auf einen "heißen Herbst der Proteste" vor. Die Bundesvorsitzende der Partei Janine Wissler erklärte vor einer Woche, es sei notwendig, "jetzt gesellschaftlich Druck zu machen, um eine Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen hinzubekommen und dafür zu sorgen, dass diese Krise nicht auf der Mehrheit der Menschen, auf deren Kosten abgewälzt wird". Bisher legte die Partei allerdings lediglich einen Forderungskatalog gegen die Energiekrise vor, der unter anderem ein generelles Tempolimit, ein Verbot von Inlandsflügen und ein Verbot von Öl- und Gasheizungen enthält. Weiterhin sollen öffentliche Verkehrsmittel gefordert sowie ein nationaler Industrieplan mit Vorgaben für das Energiesparen in Unternehmen erstellt werden.
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