In der Ampelkoalition gibt es zunehmend Streit um die Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken. Noch am Wochenende wiesen führende Grünen-Politiker Forderungen nach einer Laufzeitverlängerung als Mittel gegen die drohende Energiekrise deutlich zurück. Die Forderungen kamen unter anderem vom Koalitionspartner FDP. So sagte Fraktionschef Christian Dürr den Zeitungen der Funke-Mediengruppe:
"Ich rate dringend dazu, die Laufzeiten der Kernkraftwerke für einen befristeten Zeitraum zu verlängern. Entgegen anderslautender Einschätzungen hat bereits ein Betreiber erklärt, dass er willens und in der Lage ist, die Laufzeiten befristet zu verlängern."
Gegenüber dem Handelsblatt warnte Dürr vor den möglichen Folgen eines Stopps der Gaslieferungen aus Russland:
"Wenn die Gaslieferungen aus Russland dauerhaft ausbleiben, droht eine echte Krise. Es geht nicht nur um drastisch steigende Heizkosten, sondern auch um stillgelegte Produktionen bei der Industrie oder leere Supermarktregale."
Noch am Samstag warf Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis90/Die Grünen) den Befürworten einer Laufzeitverlängerung mangelnde Objektivität vor:
"Erst einmal ist die Atomkraft eine Hochrisikotechnologie und einige Äußerungen sind mir da einfach zu spielerisch. Fakt ist: Wir haben aktuell ein Gasproblem, kein Stromproblem. Dieses 'Wir lassen die mal weiterlaufen, dann wird schon alles gut' steht weder im Verhältnis zu den Abstrichen bei den Sicherheitsstandards, die wir dafür in Kauf nehmen müssten, noch ist es der Situation angemessen."
Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Land monierte, Atomkraft sei nicht das richtige Mittel, um unabhängig von russischen Gaslieferungen zu werden. In einem Interview behauptete sie, dass Atomkraft weniger als ein Prozent der Stromerzeugung aus Gaskraftwerken ersetzen könne. Eine Laufzeitverlängerung wäre daher so, als "ob man ein Pflaster auf die falsche Stelle klebt".
Doch nun könnte sich die Bundesregierung für einen Weiterbetrieb der drei noch verbliebenen Atomkraftwerke über das Jahresende hinaus entscheiden. Und die Grünen rudern scheinbar zurück.
Eine Regierungssprecherin sagte am Montag, dass die Diskussion über die Atomkraftwerke für die Bundesregierung von Anfang an "keine ideologische, sondern eine rein fachliche Frage" gewesen sei und verwies auf einen angekündigten zweiten Stresstest zur Sicherheit der Stromversorgung. Das sei die Grundlage von Entscheidungen.
Auch das Wirtschaftsministerium lässt sich eine Hintertür offen. Eine Sprecherin von Bundeswirtschaftsminister Habeck sagte, schon der erste Stresstest habe verschärfte Annahmen unterstellt:
"Wir rechnen jetzt noch mal und entscheiden dann auf der Basis von klaren Fakten."
Auch grünen Chefin Lange erklärte einen Tag später bei Anne Will, dass zum jetzigen Zeitpunkt Laufzeitverlängerungen kein Thema seien. Sie fügte aber hinzu, dass "wir wie in jedem Moment dieser Krise natürlich immer auf die aktuelle Situation reagieren müssen, dabei alle Maßnahmen prüfen werden. Wir haben das nie kategorisch ausgeschlossen, sondern wir haben immer aktuell geprüft, was macht in diesem Moment Sinn."
Die AKW-Betreiber betonten unterdessen erneut, dass es sich um eine Entscheidung der Politik handle. Beim zweiten Stresstest solle es darum gehen, ob die Versorgungssicherheit im Stromsektor und der sichere Betrieb des Netzes unter verschärften Annahmen gewährleistet seien. Mit Ergebnissen sei "in den nächsten Wochen zu rechnen".
In den Medien wird derweil spekuliert, dass das Umschwenken der Grünen-Spitze aus parteipolitischen Erwägungen geschieht. So befürchten die Grünen möglicherweise, dass vor allem Wirtschaftsminister Habeck für eine "frierende Nation" im Winter verantwortlich gemacht wird.
Es dürfte jedoch unwahrscheinlich sein, dass die Grünen diese Kehrtwende der Parteibasis vermitteln können. So forderte die Wirtschaftsweise Veronika Grimm die Partei zum Umdenken auf, räumte gegenüber dem Handelsblatt jedoch ein, dass es nicht einfach sei, diesen Schritt der Parteibasis zu vermitteln und dass es sich vermutlich um "eine Mammutaufgabe" handele. So äußerte sich auch die Bundestags-Fraktionschefin der Grünen Britta Haßelmann bezüglich einer Laufzeitverlängerung der letzten drei Atomkraftwerke kritisch. Der Nachrichtenagentur dpa sagte sie am Montag:
"Es gibt einen gesellschaftlichen Konsens zum Ausstieg aus der Atomkraft, den setzen wir nicht aufs Spiel."
Bei der Atomkraft handle es sich um eine Hochrisikotechnologie, so Haßelmann.
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