Der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, warnte in einem Interview mit der Bild am Sonntag davor, dass Deutschlands Erdgasreserven nicht ausreichen, um das Land ohne den Zukauf russischen Gases durch den kommenden Winter zu bringen.
Zwar seien die Gasreserven zu rund 65 Prozent gefüllt und damit "besser als in den vergangenen Wochen" - sie reichen aber immer noch nicht aus, "um ohne russisches Gas durch den Winter zu kommen", so der für Strom- und Gasnetze zuständige politische Beamte. Es hänge nun viel davon ab, ob die Wartungsarbeiten an der Nord Stream 1-Pipeline wie erwartet am Donnerstag abgeschlossen werden.
Auf die Frage, wie lange es dauern würde, bis die Energiepreise für die Verbraucher in Deutschland im Falle eines vollständigen Stopps der russischen Gaslieferungen weiter angehoben würden, sagte Müller, dass noch keine Entscheidung getroffen worden sei. Er versicherte jedoch, dass es "in dieser Woche keinen nennenswerten Preissprung mehr gegeben hat, obwohl Nord Stream 1 abgeschaltet wurde". Laut Müller könnte dies ein Zeichen dafür sein, dass "die Märkte den Verlust der russischen Gaslieferungen bereits eingepreist und wir ein Gaspreis-Plateau erreicht haben".
Der Netzagentur-Chef betonte, dass die Deutschen "nicht in Panik verfallen sollten", und versicherte, dass "die privaten Haushalte den geringsten Grund zur Sorge haben" und weit länger als die Industrie mit Gas versorgt werden.
Außerdem, so Müller, "gibt es kein Szenario, in dem wir völlig ohne Gas bleiben". Selbst wenn Russland seine Lieferungen komplett einstellte, würden andere Länder wie Norwegen, die Niederlande und Belgien den fossilen Brennstoff weiterhin nach Deutschland liefern, so Müller. In Zukunft werde auch das eigene Flüssiggas-Terminal einen Unterschied machen, fügte der Präsident der Netzagentur hinzu.
Sollte es zu einer Rationierung von Gas kommen, werde die Behörde den möglichen Schaden für die Wirtschaft und die Versorgungsketten abwägen, der durch die Unterbrechung der Lieferungen an bestimmte Unternehmen oder Industrieanlagen entstehen könnte, so Müller.
Selbst wenn es zu einer Verknappung käme, würden wahrscheinlich nur diejenigen Teile Deutschlands betroffen sein, die am Ende des Gasnetzes liegen, so der politische Beamte weiter. Müller wies auch Vorschläge zurück, dass Berlin jegliche Gasexporte in europäische Nachbarländer verbieten sollte, und betonte die Bedeutung der Solidarität.
Im Falle einer Gas-Mangellage müsse sich Deutschland seinen Nachbarstaaten gegenüber solidarisch verhalten und im Notfall auch Gas aus deutschen Speichern für die Versorgung der kritischen Infrastruktur in anderen Ländern bereitstellen, so Müller: "Wir haben unseren Nachbarn gegenüber eine Solidaritätsverpflichtung und sind gut beraten, sie nicht zu verletzen ... So wie wir gerade von den Flüssiggas-Häfen in Belgien und den Niederlanden profitieren, stehen wir auch in der Pflicht, in einer Notlage bei der Versorgung von privaten Haushalten oder Krankenhäusern unseren Nachbarländern zu helfen."
Müller räumte allerdings ein:
"Richtig ist aber auch, dass die Preise nie wieder so niedrig sein werden, wie sie einmal waren."
Seit Beginn der russischen Offensive gegen die Ukraine sind die Gaspreise in Europa in die Höhe geschossen und erreichten Anfang März einen historischen Höchststand von über 3.600 Dollar pro 1.000 Kubikmeter. Während die Ukraine und einige andere osteuropäische Länder, darunter Polen, die EU aufgefordert haben, die Einfuhr russischen Gases komplett zu verbieten, hat Brüssel die Maßnahme bisher nicht umgesetzt - auch, weil es an einem Konsens unter den Mitgliedsstaaten mangelt. Deutsche Regierungsvertreter sowie zahlreiche Wirtschaftsexperten haben wiederholt davor gewarnt, dass ein Stopp der russischen Gaslieferungen der Wirtschaft einen schweren Schlag versetzen würde, der anders als bei Corona auch nicht durch staatliche Maßnahmen aufzufangen wäre.
Seit Montag, dem 11. Juli, fließt kein Gas mehr durch Nord Stream 1, die wichtigste Pipeline für Erdgas aus Russland. Grund für die Unterbrechung des Gastransports sind jährliche Wartungsarbeiten an den Verdichterstationen der Ostsee-Leitung. Die Arbeiten sollen nach Angaben der Betreibergesellschaft bis zum 21. Juli dauern. In Deutschland zeigen sich einige Stimmen besorgt, dass die Pipeline möglicherweise nicht wieder in Betrieb genommen wird. In diesem Fall dürfte Gas im Winter knapp werden, da Ersatz aus anderen Quellen absehbar nicht im vollen Umfang beschafft werden kann.
Wirtschaftsminister Habeck rief Unternehmen und Bürger zu Einsparungen auf, beispielsweise beim Beheizen ungenutzter Büroräume. Nach Angaben des Deutschen Städtetages versuchen auch die Städte jetzt schon alles, um ihren Gasverbrauch zu senken. Die Krisenstäbe der Städte arbeiteten an einem Stufenverfahren für den Zeitpunkt, zu dem man wisse, wie es um die Gasversorgung stehe, sagte Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy im Deutschlandfunk.
Habeck bekräftigte die Absicht, auch im nächsten Jahr eine Kostenentlastung der Bürger zu verwirklichen. "Selbst Gutverdiener schlucken, wenn sie statt 1.500 plötzlich 4.500 Euro im Jahr fürs Heizen bezahlen müssen. Für Menschen mit mittleren oder geringen Einkommen sind diese Summen schlicht nicht darstellbar. Hier muss die Bundesregierung Entlastungen organisieren, und zwar auch 2023. Ich bin mir sicher, dass das Finanzministerium dafür noch Vorsorge schaffen wird”, sagte Habeck.
Der nach mehreren Partei-Skandalen angeschlagene bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder hielt der Bundesregierung vor, keinen durchdachten Plan für den Ersatz russischen Gases zu haben. "Andere Länder melden den Abschluss von Gasverträgen mit Katar – bei uns Fehlanzeige, warum nur? Wie und wann kommt das Gas?". Stattdessen gebe es in Berlin einen Überbietungswettbewerb an Vorschlägen darüber, in welchen Bereichen sich die Menschen einschränken sollten. "Besonders absurd ist die Idee, Ältere und Bedürftige im Winter in Wärmehallen unterzubringen. Dabei sind warme Wohnungen die zentrale Aufgabe der Bundesregierung".
Die Berliner Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey forderte ein enges Zusammenwirken von Bund und Ländern in der Gaskrise. Sollte es zu einem Lieferstopp kommen, müsse eine Sonder-Ministerpräsidentenkonferenz gemeinsam mit der Bundesregierung einberufen werden, sagte die SPD-Politikerin der dpa. "Das hätte massive Auswirkungen auf alle. Und an dieser Stelle ist es aus meiner Sicht absolut erforderlich, dass es einen sehr, sehr engen Schulterschluss zwischen Bund und Ländern gibt", sagte Giffey.
Sachsens Innenminister Armin Schuster hält angesichts möglicher Gas-Engpässe im Winter die Einrichtung eines Krisenstabs im Kanzleramt für notwendig. "Um die Abstimmung mit den Ländern und den verschiedenen Ressorts der Bundesregierung zu gewährleisten, sollte der Krisenstab im Kanzleramt, den es für die Corona-Pandemie gab, eigentlich wiederbelebt werden", sagte der CDU-Politiker der Deutschen Presse-Agentur am Sonntag.
Für die Länder sei es außerdem wichtig, von Bundeswirtschaftsminister Habeck oder der ihm in Energiefragen unterstellten Bundesnetzagentur "mit Wahrscheinlichkeiten versehene Szenarien" für eine Energiemangel-Situation in diesem Winter zu erhalten. Dies sei notwendig, um regional entsprechende Maßnahmen für den Schutz der Bevölkerung planen zu können.
"Wir betreiben in einer Krise einen interministeriellen Verwaltungsstab im Innenministerium", sagte Schuster, der vor seinem Wechsel nach Sachsen das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) geleitet hatte. Dieser Stab werde gerade vorbereitet, um Antworten auf Fragen wie "Was bedeutet ein Gas-Mangel für Schulen, für den Sport, für private Haushalte, für die Kommunen?" zu beantworten. Szenarien dafür, worauf man sich besten- oder schlimmstenfalls einrichten müsse, wären dafür nicht nur hilfreich, sondern sogar dringend erforderlich. Wie Zahlen der Verbraucherzentralen zeigen, suchen viel mehr Bürger als früher den Rat von Fachleuten, um angesichts der gestiegenen Kosten den Energieverbrauch zu reduzieren.
Ende Juni aktivierte Wirtschaftsminister Robert Habeck die zweite Phase des dreistufigen deutschen Gasnotstandsplans. Dies geschah, als Russland die Lieferungen über die Nord Stream 1-Pipeline einstellte und dafür das Fehlen einer Turbine, die wegen der Sanktionen in Kanada feststeckte, verantwortlich machte. In dieser Woche hat Berlin Ottawa gebeten, die von Moskau als Grund für die Lieferausfälle angeführte wartungsbedürftige Anlage zunächst nach Deutschland zurückzuschicken.
Kanada hat dem Ersuchen Berlins stattgegeben und wird die Turbine nach Deutschland verschiffen, von wo aus sie ihren Weg nach Russland nehmen wird, so dass Ottawa seine eigenen Sanktionen nicht verletzen muss, indem es einen indirekten Lieferweg nutzt. In der Zwischenzeit hat Russlands staatlicher Energiekonzern Gazprom am Freitag den deutschen Industrieriesen Siemens offiziell aufgefordert, die für die Rückführung der Anlagen nach Russland erforderlichen Papiere vorzulegen.
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