Von Susan Bonath
Immer mehr Menschen in Deutschland bitten bei Tafeln um Lebensmittel. Das teilte am Donnerstag der Dachverband dieser Einrichtungen mit. Dessen Vorsitzender Jochen Brühl sprach von einem "dramatischen Höchststand" der Armut. Jede dritte Tafel habe sogar einen Aufnahmestopp verhängt, weil es ihnen an Spenden und ehrenamtlichem Personal mangele.
Allein seit Jahresbeginn habe der Zulauf zu den Essensausgaben um 50 Prozent zugenommen, berichtete Brühl. Etwa jede vierte Einrichtung verzeichne sogar doppelt so viele Bedürftige wie noch vor einem halben Jahr. Hinzugekommen seien vor allem Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sowie Geringverdiener, Erwerbslose und Rentner, die häufig einen Anspruch auf Grundsicherung haben. Nie zuvor hätten so viele Menschen für die gespendeten Lebensmittel angestanden, die dort für zwei oder drei Euro ausgegeben werden.
Brühl mahnte, alle knapp 1.000 Tafeln mit noch weit mehr Ausgabestellen bundesweit seien am Limit. Sie hätten dem Dachverband berichtet, dass viele Menschen hinzugekommen seien, die bisher gerade so über die Runden gekommen waren und zum ersten Mal Hilfe in Anspruch nehmen müssten. Darüber hinaus habe sich auch die Situation vieler ehemaliger Bedürftiger erneut verschlechtert, sodass sie wieder Hilfe bräuchten.
Laut dem Verbandschef versuchen die Einrichtungen, der Lage Herr zu werden, indem sie sie die Menge an Lebensmitteln reduzieren und zugleich die Abholtermine verringern. Die Betroffenen dürfen dann etwa nur noch zweimal im Monat statt jede Woche erscheinen und bekommen zugleich weniger Essen.
Brühl kritisierte, Jobcenter, Sozialämter und Ausländerbehörden verwiesen Betroffene in Notfällen trotzdem häufig an die Tafeln, anstatt ihnen selbst aus einer finanziellen Notlage zu helfen. Dieses Problem beklagen etwa Hartz-IV-Bezieher schon seit Jahren. Rechtlich ist das eine heikle Sache, denn die Tafeln sind keine staatlichen Einrichtungen, sondern private Initiativen. Sie sind nicht verpflichtet, Menschen zu helfen, und können sie abweisen. Außerdem sind sie auf Lebensmittel angewiesen.
Dies sei, so Brühl, "verantwortungslos" von den Behörden. Diese erkundigten sich oft nicht einmal danach, ob die Tafel vor Ort überhaupt weitere Hilfesuchende aufnehmen könne. Er betonte: "Wir helfen, so viel wir können, aber bleiben ein Zusatzangebot." Der Staat sei in der Pflicht, zu gewährleisten, "dass alle Menschen in Deutschland genug zu essen und zu trinken haben". Das Ehrenamt sei dafür nicht zuständig.
Rasanter Anstieg der Armut
Laut dem diesjährigen Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes erreichte die Armut in Deutschland schon im vergangenen Jahr einen vorläufigen Höchststand. Demnach stieg die Armutsquote auf 16,6 Prozent an. Dies bedeutet, dass 2021 geschätzt fast 14 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze gelebt haben dürften.
Eine weitere Zunahme der Verarmung sei bereits zu beobachten, warnte der Tafel-Chef. Die rasant steigenden Preise für Grundnahrungsmittel sowie darüber hinaus anstehende Nachzahlungen für Strom und Heizkosten verschlimmerten die Lage zusehends.
Laut Bundesagentur für Arbeit (BA) leben aktuell rund 5,5 Millionen Menschen in Hartz-IV-Haushalten, darunter fast zwei Millionen Kinder. Zuletzt haben wieder mehr Menschen diese Leistungen beantragt. Rund 1,1 Millionen weitere Menschen waren zu Jahresbeginn auf Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung angewiesen. Seit 2005 hat sich ihre Zahl damit mehr als verdoppelt. Ende 2020 erhielten zudem knapp 400.000 Flüchtlinge Asylbewerberleistungen. Diese sind sogar etwa 18 Prozent niedriger bemessen als Hartz IV und Sozialhilfe.
Alleinstehende Hartz-IV-Bezieher erhalten derzeit einen 449 Euro pro Monat plus Mietbeihilfe, die allerdings häufig, bedingt durch niedrige Obergrenzen, unter der zu zahlenden Miete liegt. Jobcenter weigern sich zudem sehr oft, Nachzahlungen für Nebenkosten zu erstatten. Strom müssen Betroffene aus ihrem Regelsatz bezahlen. Für Energie, Wohnungsinstandhaltung und Zuzahlungen zur Miete insgesamt 38 Euro im Regelsatz für Alleinstehende enthalten, was angesichts der realen Preise viel zu gering erscheint. Eine Aufstockung mit dieser Leistung kann jeder Beschäftigte beantragen. Sofern sein Lohn seinen Hartz-IV-Anspruch plus Freibetrag nicht übersteigt, bekommt er auch Geld.
Um die steigenden Preise für Strom, Heizung und Lebensmittel abzufedern, hatte die Bundesregierung einen Einmalzuschuss von 200 Euro für Bezieher von Grundsicherung beschlossen. Bisher warten Betroffene allerdings vergeblich darauf. Erst sollte das Geld Ende Juni für den Monat Juli automatisch ausgezahlt werden, denn in diesem Monat erhalten bereits viele Mieter ihre Nebenkostenabrechnung für das Vorjahr. Nun vertröstet die Bundesregierung die Bedürftigen auf das Ende dieses Monats – vorerst.
Mehr zum Thema - Deutschland: Armutsquote stieg im zweiten Pandemiejahr 2021 auf 16,6 Prozent