Der freiwillige Verzicht auf konventionelle Kraftwerke im Zuge der Energiewende in Deutschland sowie der Ausfall nahezu der Hälfte aller Atommeiler in Frankreich sorgen derzeit nicht nur für exorbitant hohe Energiepreise, sondern auch für einen kritischen Energie-Engpass in Deutschland. Angesichts der deshalb drohenden Blackouts in Mitteleuropa hatte die vom Krieg gebeutelte Ukraine der Europäischen Union vor wenigen Tagen angeboten, Atomstrom nach Deutschland zu liefern, um so zur Energiesicherheit beizutragen. Dieses Angebot wurde von der Regierung offenbar dankend angenommen. Denn nach Angaben von Präsident Wladimir Selenskij hat das osteuropäische Land bereits damit begonnen, Strom in die EU zu liefern.
Ukraine rettet Europa vor Blackout
"Eine wichtige Etappe unserer Annäherung an die Europäische Union wurde erreicht", erklärte der ukrainische Präsident am Donnerstagabend in einer Videobotschaft. Die Ukraine "hat begonnen, über Rumänien in bedeutendem Maße Strom in das Territorium der EU zu exportieren." Allerdings sei das "nur die erste Etappe. Wir bereiten eine Erhöhung der Lieferungen vor", erläuterte Selenskij. "Ukrainischer Strom kann einen bedeutenden Teil des von den Europäern verbrauchten russischen Gases ersetzen." Dabei gehe es "nicht nur um Exporteinnahmen für uns", so der Präsident weiter. Vielmehr sei es "eine Frage der Sicherheit für ganz Europa."
Bereits im März war die Ukraine an das europäische Stromnetz angeschlossen worden, nachdem das Land seinen Anschluss an das russische Netz infolge des Ukraine-Kriegs zuvor gekappt hatte. Mit dem nun begonnenen Transfer von Strom in die EU reagiert die Ukraine sowohl auf die kriegsbedingte nachlassende Nachfrage nach Energie im eigenen Land als auch auf die sich häufenden Meldungen über Stromausfälle in ganz Europa. Der eine hat, was der andere benötigt – und umgekehrt. Beide profitierten davon, erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Donnerstag auf Twitter:
"Es wird der EU eine zusätzliche Stromquelle bieten und der Ukraine dringend benötigte Einnahmen. Deswegen profitieren wir beide."
Während die Ukraine dringend auf neue finanzielle Einnahmequellen angewiesen ist und deshalb nach Abnehmern für ihren zu viel produzierten Strom sucht, ist die EU hingegen auf der Suche nach neuen Energieversorgern, um den derzeit in Europa herrschenden Strommangel zu kompensieren, der zunehmend in einem Blackout zu enden droht.
Deutschlands grüne Energiewende gefährdet die Stromversorgung in ganz Europa
Schuld daran ist mitunter auch Deutschland. Durch das schrittweise Abschalten der konventionellen Kraftwerke infolge der Energiewende in Deutschland hat sich das Risiko eines Blackouts in Europa deutlich erhöht. Denn Photovoltaikanlagen und Windräder sind nicht dazu in der Lage, konstant Strom zu produzieren. Das liegt daran, dass sie von externen Faktoren wie passenden Wetterbedingungen abhängig sind. Was ist, wenn kein Wind geht oder in den Wintermonaten weniger Sonne scheint? Woher kommt dann der Strom?
Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz in Bonn bewertete in seiner aktuellen Übersicht mitunter auch deswegen die Wahrscheinlichkeit, dass in Deutschland eine durch einen Stromausfall verursachte Katastrophe eintritt, höher als jede andere Gefahr. Der ukrainische Energieminister Herman Haluschenko hatte Deutschland vergangene Woche deshalb die Lieferung von Atomstrom angeboten. So könne "eine Art Versicherungspolster in Zeiten witterungsbedingt rückläufiger Erzeugung aus Solar- und Windkraftanlagen" entstehen, schrieb er in einem Gastbeitrag für die Wirtschaftswoche. "Im Bereich der Dekarbonisierung bewegt sich die Ukraine in einer anderen Logik als Deutschland." Daher würde mehr als die Hälfte des ukrainischen Stroms in Atomkraftwerken erzeugt:
"Damit kann die Ukraine, die seit dem 16. März ihr Energienetz mit dem Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber synchronisiert hat, zum Outsourcer von Strom für Deutschland werden."
Frankreichs Atommeiler stehen plötzlich still
Der andere Grund für den drohenden Blackout in Europa findet sich in Frankreich. Dort hat sich von der Bevölkerung weitestgehend unbemerkt eine zweite Stromkrise zusammengebraut. Frankreich betreibt 56 Kernkraftwerke, die nicht nur das Land, sondern auch Deutschland und die Schweiz mit Strom versorgen – normalerweise –, denn derzeit ist mehr als die Hälfte der Leistung französischer Atomkraftwerke nicht verfügbar. Zwölf der sonst 56 Reaktoren musste der staatlich kontrollierte Energiekonzern EDF nach eigenen Angaben unvorhergesehen vom Netz nehmen, nachdem an vielen Reaktoren Korrosionsschäden an Schweißnähten festgestellt wurden.
Diese sogenannten "Spannungsrisskorrosionen" beträfen das Leitungssystem, über das im Notfall borhaltiges Wasser in den Primärkreislauf, den sicherheitskritischen Bereich des Reaktors, eingeleitet werden kann. Von den Korrosionsschäden seien jedoch nicht nur die älteren Anlagen betroffen, erklärte EDF, sondern auch die modernsten und leistungsstärksten Kraftwerke in Frankreich. Deshalb ist zu befürchten, dass bei den noch anstehenden Untersuchungen weiterer Reaktoren auch weitere Korrosionsschäden gefunden werden. Das wäre eine Katastrophe für die Energiesicherheit in Europa, denn die Reparaturen dauern Monate.
Neben den unvorhergesehenen Abschaltungen stehen gegenwärtig auch mehr Kernkraftwerke als üblich wegen routinemäßiger Wartungsarbeiten still. Außerdem mussten einige Reaktoren wegen warmer Flusswassertemperaturen als Folge der Hitzewelle im Juni heruntergefahren werden, weil das zu warme Wasser nicht mehr als dringend benötigtes Kühlwasser verwendet werden konnte.
Weshalb ist die Stromversorgung gefährdet?
Vieles hängt dabei vom instabilen Stromnetz ab. Es sind nicht viele Faktoren nötig, um das empfindliche System zum kompletten Absturz zu bringen. Auch wenn Wind und Sonne nicht immer zur Verfügung stehen, muss das europäische Stromnetz stets ausglichen sein. Wird dieses nicht konstant bei 50 Hertz Netzfrequenz stabilisiert, drohen Stromausfälle. Bei einer zu starken Abweichungen der Netzfrequenz vom Idealwert droht sogar der Zusammenbruch der Stromversorgung – ein Blackout.
Sobald bei einem Unterangebot von Strom ein Wert von 47,5 Hertz unterschritten wird, beginnen sämtliche Kraftwerke damit, sich selbstständig abzuschalten – europaweit. Ein schnelles Wiederhochfahren des komplexen Systems ist dann nicht mehr möglich. Europa wäre zurück in der Steinzeit. Fiele der Strom nur ein paar Tage über mehrere Länder hinweg aus, kämen die Menschen schnell an ihre Grenzen, weil "zum Beispiel die Trinkwasserversorgung zusammenbrechen und die Versorgung auch mit Dieselkraftstoff für die Notstromaggregate problematisch werden würde", erklärte Wolfram Geier vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe im Gespräch mit dem Deutschlandfunk.
So gäbe es ohne Strom nicht nur kein Licht, sondern auch keine Toilettenspülung, keine Heizung und auch kein Internet. Züge und Straßenbahnen würden nicht mehr fahren und auch die kritische Infrastruktur käme zum Erliegen. Es beträfe zudem Operationen, die nicht mehr durchgeführt werden könnten, wie das Finanzsystem. Wirklich alles stünde still – mit katastrophalen Konsequenzen. Deshalb warnt das Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestags bereits seit Jahren vor einem Blackout:
"Die Folgenanalysen haben gezeigt, dass bereits nach wenigen Tagen im betroffenen Gebiet die flächendeckende und bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen nicht mehr sicherzustellen ist. Die öffentliche Sicherheit ist gefährdet, der grundgesetzlich verankerten Schutzpflicht für Leib und Leben seiner Bürger kann der Staat nicht mehr gerecht werden."
Kohlekraftwerke sollen helfen - doch es gibt Probleme
Angesichts des auch wegen der Folgen des Krieges in der Ukraine drohenden Zusammenbruchs der Energieversorgung plant Deutschland derzeit deshalb auch, stillgelegte Kohlekraftwerke wieder hoch zufahren. Nach Ansicht des Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) läge der Vorteil der Kohlekraftwerke darin, dass die Betreiber sie mit relativ kurzer Vorlaufzeit hochfahren könnten. Der Grünen-Politiker macht den Kraftwerksbetreibern deshalb schon jetzt ordentlich Druck. Diese sollten sich demnach "darauf einstellen, dass alles so bald wie möglich einsatzbereit ist". Doch ob die Kohlekraftwerke tatsächlich kurzfristig hochgefahren werden können, ist fraglich.
Viele Kraftwerksbetreiber waren wegen der durch die Bundesregierung beschlossenen Zwangsstilllegungen ihrer Kraftwerke vor wenigen Jahren gezwungen, den ihnen daraus entstanden wirtschaftlichen Schaden zu mindern. Es folgten Entlassungen und für den Betrieb der Anlagen benötigte Teile wurden ins Ausland verkauft. Zweifel daran, ob die Kraftwerke das nötige Personal, die Kohle und die Ersatzteile haben, um kurzfristig wieder einsatzbereit zu sein, gibt es bei der Bundesregierung jedoch offensichtlich nicht. Denn ob es überhaupt machbar ist, die Anlagen wieder hochzufahren, wurde vor den Verlautbarungen Habecks seltsamerweise nicht überprüft.
Sollte das Hochfahren doch nicht so einfach klappen, droht Deutschland trotz der ukrainischen Stromlieferungen eine Energiekatastrophe. Und dieser Verdacht scheint sich nun zu bewahrheiten. So erhob unter anderem der Energiekonzern Vattenfall Einwände gegen die Forderungen der Bundesregierung nach einem Wiederanfahren des stillgelegten Kohlekraftwerks Moorburg.
"Als Kohlekraftwerk darf es nach den geltenden Regularien nicht mehr betrieben werden und es wäre technisch und wirtschaftlich auch nicht vernünftig darstellbar", erklärte eine Sprecherin von Vattenfall am Montag der dpa. Deshalb bereite Vattenfall auch weiter den Rückbau des Kraftwerks im Hamburger Hafen vor. Die noch rund 90 Beschäftigten im Kraftwerk hätten demnach bereits damit begonnen, die Systeme zu entleeren, so die Sprecherin weiter. Zudem seien bereits Ersatz- und Reserveteile des Kraftwerks sowie Großkomponenten von Turbinen, Generatoren, Transformatoren und Messeinrichtungen verkauft worden. Ohne diese Teile ist ein Wiederanfahren des Kraftwerks ohnehin nicht möglich.
Daneben steht den Plänen der Bundesregierung auch ein herrschender Mangel an Fachkräften entgegen, da diese im Zuge der Schließungen in Frührente geschickt oder gekündigt werden mussten. Angesichts der akuten Lage stößt das nun bitter auf. Somit ist fraglich, ob die Einspeisung von ukrainischem Strom in das europäische Netz die drohende Katastrophe überhaupt noch verhindern kann. Zwar konnten flächendeckende Stromausfälle bisher noch verhindert werden, allerdings nur knapp.
Zuletzt stand Europa am 8. Januar 2021 kurz davor, im Dunkeln zu versinken. An diesem Tag war die Frequenz von 50 Hertz auf etwas mehr als 49,7 Hertz abgesackt. Dieser minimale Unterschied hätte beinahe einen europaweiten Stromausfall provoziert. Zwar ist auch an diesem Tag wieder alles gut ausgegangen, doch da die autonome Steuerung der sensiblen Infrastruktur kein Abwarten kennt, rückt ein Blackout angesichts der derzeitigen Energiekrise immer näher.
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