Die diplomatische Ohrfeige für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die ihm das offizielle Kiew mit der Erklärung verpasst hatte, man wolle seine Teilnahme am Besuch der vier baltischen und osteuropäischen Staatschefs nicht, blieb auch in Russland nicht unkommentiert.
Der scharfzüngige Politik- und Nahostexperte Jewgeni Satanowski wunderte sich auf seinem Telegram-Kanal insbesondere über die Gründe, die den ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij zu diesem Affront verleitet hatten. Selenskij hatte Steinmeier zu enge Kontakte zu Russland und ein besonderes Engagement für die Gaspipeline Nord Stream 2 unterstellt. Satanowski äußert diesbezüglich Zweifel:
"Der deutsche Bundespräsident (...) machte einige Aussagen, die starke Zweifel an seinen Sympathien für unser Land und seine Führung aufkommen lassen. Es redete bereits von der Unmöglichkeit, die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland unter Putin zu normalisieren, und von der Notwendigkeit, 'Russlands Verbrechen in der Ukraine' (?!) zu untersuchen, und vieles mehr."
Der Experte und Publizist erinnerte daran, dass Steinmeier Staatschef eines Landes ist, das 2013/2014
"zum bereits dritten Mal in den letzten 100 Jahren in die Ukraine einmarschierte, gepanzerte Fahrzeuge und andere Waffen und Ausrüstungen lieferte und deutschen 'Freiwilligen' oder einfach Neonazis, die zum Vergnügen auf Russen schießen wollten, den Zugang zu den ukrainischen Sicherheitskräften eröffnete".
Die Parallelen zu den beiden Weltkriegen, als Deutschland und die Deutschen schon mal in der Ukraine waren und dort im Bündnis mit lokalen Nationalisten gegen Russland kämpften, könne selbst Steinmeier nicht übersehen, argumentiert Satanowski.
"Das erste Mal gegen das Russische Reich für den Kaiser, das zweite Mal gegen die Sowjetunion für den Führer. (...) Es ist bekannt, dass Gott die Dreifaltigkeit liebt, aber nicht in diesem Ausmaß! Wurde er (Steinmeier) durch das Ergebnis des Vertrags von Brest inspiriert?"
Das deutsche Kalkül, sich zum dritten Mal und diesmal erfolgreich an der Kolonialisierung der Ukraine zu versuchen, werde aber nicht aufgehen:
"Putin ist nicht Lenin, und die Russische Föderation im April 2022 unterscheidet sich stark von Sowjetrussland im März 1918. Und kein deutscher Generalstab kann hier heute eine Revolution provozieren. Das eine Mal hat uns gereicht. (...) Nein, es ist klar, dass die Deutschen damals auch gegen die Briten und die Amerikaner Krieg führten, und jetzt sind sie alle sich in Bezug auf Moskau völlig einig. (...) Bedenken müsse man jedoch, dass ein Dritter Weltkrieg für Europa, insbesondere für Großbritannien und Deutschland, schneller enden kann, als sie ihn beginnen können. Die Ergebnisse eines Dritten Weltkriegs, der sich vom derzeitigen Stellvertreterkrieg einer mit westlichen Waffen vollgepumpten und von NATO-Söldnern und -Militärs gegen Russland aufgeheizten Ukraine zu einem direkten Schlagabtausch zwischen Moskau und der westlichen Welt entwickelt, dürfte dort kaum jemanden erfreuen."
Der Garant dafür, dass dies noch nicht geschehen ist und ein Katastrophenszenario bislang vermieden werden konnte, ist nach Auffassung des Politik- und Sicherheitsexperten "derselbe Putin, unter dem Steinmeier keine Möglichkeit einer Normalisierung der Beziehungen zu Russland sieht". Jeder andere russische Politiker mit Chancen auf das höchste Amt im Land hätte wohl weitaus weniger Geduld mit dem Westen gehabt und längst radikaler gehandelt.
Dass ein Nachfolger Putins die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen normalisieren könne, hält Satanowski für unwahrscheinlich. Es gibt in Russlands Elite niemanden, der dem Westen, Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen positiver gegenübersteht als Putin. "Vor allem nach allem, was die Führer der westlichen Welt in den letzten zehn Jahren im postsowjetischen Raum verbockt haben", können sie keine positive Einstellung zu sich und ihren Ländern erwarten, betont der Experte. Das verstehe man im Westen nicht und setze darum die "idiotischen und zum Scheitern verurteilten Versuche" fort, Putin zu stürzen, was seine Position im Lande nur stärke.
Der 1959 geborene Satanowski ist einer der führenden Experten für Geopolitik und internationale Sicherheit in Russland mit Einfluss auf die Entscheidungsprozesse in den obersten Etagen. Er war einer der Ersten, der vor etwa zwei Jahren Kritik an dem damals nur auf eine diplomatische Lösung orientierten Kurs des Kreml äußerte und damit nach Meinung von Beobachtern einen der Impulse für den Kurswechsel setzte.
Satanowski war nach eigenem Bekunden ab 1982 mit islamistischem Extremismus für den KGB befasst. Seit 1993 leitet er das Institut des Nahen Ostens, eines der führenden Thinktanks in Russland, promovierte und habilitierte in der Folgezeit. Satanowski war Mitbegründer und viele Jahre Präsident des Russischen Jüdischen Komitees. Seit 2019 gehört er einem Beratergremium des Verteidigungsministeriums an.
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