Zwar zahlen viele Börsenunternehmen in Deutschland laut einer Studie eine Rekordsumme an Dividenden an ihre Aktionäre: Die Gewinnausschüttungen für das abgelaufene Jahr summieren sich auf 70 Milliarden Euro und damit knapp 50 Prozent mehr als im Corona-Krisenjahr 2020, wie Berechnungen der Aktionärsvereinigung DSW und des isf Institute for Strategic Finance an der FOM Hochschule zeigen.
Doch drohen angesichts der enormen Preiserhöhungen in der jüngsten Zeit die ganz Armen hierzulande zu verelenden, warnt der Armutsforscher und Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge. Während die Inflationsrate mittlerweile auf über sieben Prozent gestiegen ist, insbesondere durch sehr hohe Energiepreise, sind Löhne und Sozialleistungen nicht annähernd entsprechend gestiegen.
Wegen des Krieges in der Ukraine kam es nach der Corona-Krise zu weiteren Preiserhöhungen in allen Lebensbereichen, sogar Discounter zogen die Preise mehrmals in den vergangenen Wochen an. Die Risiken einer Stagflation, also einer schwächer laufenden Wirtschaft bei gleichzeitig anziehender Inflation, nähmen deutlich zu, schrieb der Volkswirt Andrew Kenningham von Capital Economics jüngst.
Der Präsident der Deutschen Bundesbank Joachim Nagel zeigte sich am Mittwoch im Interview mit dem ARD-Magazin Plusminus besorgt über die hohe Inflation: "Wir erwarten schon im Jahresdurchschnitt 2022 eine Inflationsrate, die bei sechs Prozent liegen kann. Und das ist natürlich zu viel." Wenn der Krieg in der Ukraine anhalte, könne es zu weiteren Erhöhungen der Energiepreise und "Überschwappeffekten auf die Realwirtschaft" kommen. Gerade Menschen mit kleineren oder mittleren Einkommen würden von den hohen Preisen besonders hart getroffen.
Als Gesellschaft müsse man nun aufpassen, dass die Armen nicht noch ärmer und dass sie nicht noch zahlreicher werden, erklärte Butterwegge im Interview mit dem SWR.
"Seit dem Ukraine-Krieg nehmen Energie- und auch Ernährungsarmut zu, weil auf der einen Seite die Energiepreise stark steigen und auf der anderen Seite die Nahrungsmittel sehr stark im Preis angezogen haben."
Die Regelbedarfssätze, die die Ampelkoalition zu Jahresbeginn für Hartz-IV-Bezieher erhöht hatte, halten bei den starken Preissprüngen bei Weitem nicht mit. Butterwegge findet es fragwürdig, wenn zunehmend Tafeln den Sozialstaat nicht bloß ergänzen, sondern zum Teil ersetzen müssen, weil Familien im Regelbedarf zu wenig Geld für Lebensmittel haben. Denn das trifft dann ganz besonders die Kinder.
Doch auch die Tafelbetreiber berichten von bisher nicht da gewesenen Herausforderungen und zunehmender Belastung. So habe die Tafel in Nürnberg vor Kriegsbeginn in der Ukraine an zwei Wochentagen 50 bis 60 Portionen und im März in der Spitze fast 1.400 Essen pro Tag ausgegeben. Gut 2.200 Neukunden aus der Ukraine sind im März allein an dem Standort dazugekommen.
Tafeln sind auf Spenden nicht verkaufter Lebensmittel aus dem Handel angewiesen. Allerdings stünden derzeit an den Rampen der Märkte wesentlich weniger Lebensmittel zur Abholung bereit. Es werde viel direkt in die Ukraine gespendet, und außerdem bleibt in leergehamsterten Supermärkten weniger übrig. Gleichzeitig kommen viele armutsbetroffene Menschen durch diese Kosten und die hohen Lebensmittelpreise ans Limit und suchen erstmals eine Tafel auf. Während die Tafeln weiter alle bedienen – auch weiter die vielen Rentner –, sind sie selbst von den gestiegenen Energie-, Strom-, Sprit- und Lebensmittelpreisen betroffen: Sie müssen die Lebensmittel abholen, unterhalten Kühlhäuser und müssen Räume heizen, die nun länger geöffnet sind.
Das Energie-Entlastungspaket der Regierung ist nach Ansicht von Butterwegge besser als nichts, bleibt jedoch ein Tropfen auf den heißen Stein. Auch der ab Juli geplante Sofortzuschlag für Kinder von 20 Euro pro Monat auf den Regelbedarf sei unzureichend. Als Ernährungsaufschlag seien 100 Euro pro Person und pro Monat notwendig.
"Wir sind ein reiches Land, das viel Armut toleriert. Der Bund trägt die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass auch die Armen im Land sich anständig ernähren und statt zu 'frieren für den Frieden' auch heizen können."
Für eine Senkung der Mehrwertsteuer spricht sich der Armutsforscher jedoch nicht aus. "Bei der Mehrwertsteuer haben wir es mit einem Paradox zu tun. Obwohl sie die Armen am stärksten trifft, weil sie unabhängig von der finanziellen Situation einer Person bei jedem Einkauf fällig wird, würde es den Armen wenig nützen, sie zu senken."
Das habe sich im Corona-Jahr 2020 gezeigt, als die Mehrwertsteuer zeitweise von 19 auf 16 und der ermäßigte Satz von sieben auf fünf Prozent gesenkt wurden. Arme hätten vielleicht ein paar Cent gespart, "wenn die Steuersenkung vom Handel überhaupt weitergegeben wurde", erklärt Butterwegge.
"Einen echten Vorteil hatten aber Menschen, die sich ein SUV oder eine teure Designküche gekauft haben. Bei einer solchen Anschaffung lag die steuerliche Ersparnis manchmal bei mehreren tausend Euro." Er sei daher eher für gezieltere Hilfen an Menschen, die das Geld wirklich brauchen: Einkommensschwache, Transferleistungsbezieher und Geringverdiener aus der unteren Mittelschicht.
Schon vor dem Hintergrund der Euro-Krise hatte der Politikwissenschaftler sich jedoch deutlich für höhere Steuern auf Vermögen und höhere Einkommen ausgesprochen, um der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich entgegenzuwirken. Denn wie er beispielsweise in einem Interview im Jahr 2012 zu der Vermögenssteuer gesagte hatte:
"Sie wurde 1997 schon unter der Regierung von Helmut Kohl nicht abgeschafft, sondern sie steht sogar noch im Grundgesetz, aber seitdem wird sie nicht mehr erhoben, und das wäre natürlich eines der Instrumente, die nötig wären, um etwas vom Reichtum abzuschöpfen."
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