Ein Forschungsteam am Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der TU Dortmund hat im Rahmen einer Studie die Lesekompetenz von Viertklässlern vor und während der COVID-19-Pandemie untersucht. Die nun veröffentlichte Studie wertete die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf das Bildungssystem in Deutschland aus. Die Ergebnisse zeigen,
"dass der Anteil an Grundschülerinnen und -schülern, die gut bis sehr gut lesen können, im Vergleich zum Jahr 2016 um rund sieben Prozent auf 37 Prozent gesunken ist. Der Anteil derjenigen, die Probleme mit dem Lesen und dem Textverständnis haben, nahm dagegen um sechs Prozent auf insgesamt 28 Prozent zu".
Das Forschungsteam benennt die dabei berücksichtigte Ausgangslage: "Seit März 2020 hat das Coronavirus bedeutenden Einfluss auf das alltägliche Leben und das Schulwesen. Doch hatte der häufige Wechsel zwischen Distanz- und Präsenzunterricht mit unterschiedlichen hybriden Varianten Auswirkungen auf den Kompetenzerwerb von Schülerinnen und Schülern?"
Die ausgewerteten Daten ergaben sich demnach anhand "einer IFS-Schulpanelstudie mit insgesamt über 4.000 Kindern in den Jahren 2016 und 2021 an 111 ausgewählten Grundschulen" in Deutschland. Bereits erste Untersuchungen hätten ergeben, dass Wechsel- und Distanzunterricht, die Verwendung digitaler Medien und die Forderung an die Kinder nach mehr selbstreguliertem Lernen "bedeutsame negative Effekte" bei den Schülerleistungen angedeutet haben.
Insgesamt seien dabei verschiedene Gründe zu benennen, die dafür sprechen, dass die Schüler in Deutschland in den Monaten der Pandemie weniger effektiv gelernt haben als zuvor. So wären bedingte "Medienkompetenzen, die für einen erfolgreichen Umgang mit digitalen Medien im Lehr-Lern-Prozess erforderlich sind", sowohl bei Lehrkräften als auch bei den Schülern nicht immer vorhanden gewesen. Die Wahrnehmung von Eltern und Lehrkräften zeige zudem, dass die Kompetenzentwicklung der Kinder durch die neuen Lernformen wesentlich beeinträchtigt wurde. Das Studienteam erwähnt vier zu beachtende Punkte:
- Lesekompetenz ist eine Schlüsselkompetenz für gesellschaftliche Teilhabe und weiteres Lernen im Lebensverlauf.
- Die vierte Klassenstufe ist aufgrund des Übergangs in die weiterführenden Schulen ein kritischer Zeitpunkt.
- Schulischer Leseunterricht, außerschulisches Leseverhalten der Schülerinnen und -schüler und familiäre Unterstützung wurden während der Pandemie erschwert.
- Bestehende Leistungsunterschiede zwischen Schülersubgruppen könnten verstärkt worden sein.
Die Studie resümiert, dass sich die Ergebnisse "als alarmierend bezeichnen" lassen. Im Fazit heißt es:
"Für die aktuelle Schülergeneration in Deutschland zeigt sich jedoch eine substanziell niedrigere Lesekompetenz als noch vor fünf Jahren. (...) Da Lesen eine zentrale Kompetenz darstellt, hat dieses Ergebnis auch Auswirkungen auf alle anderen Schulfächer."
So wären "Mädchen im Lesen im Mittel weiterhin stärker als Jungen", allerdings sank demnach das durchschnittliche Leseniveau beider Gruppen. Bezüglich der "soziokulturellen" Familiensituation hat die Untersuchung Folgendes ergeben:
"Kinder aus Familien mit mehr als 100 Büchern zuhause können im Schnitt besser lesen als solche mit weniger Büchern, aber die mittlere Lesekompetenz beider Gruppen ist in ähnlichem Maße geringer als noch 2016. Kinder mit schlechten häuslichen Rahmenbedingungen zum Lernen – kein eigener Schreibtisch und kein Internetzugang – verlieren allerdings im Schnitt (...) mehr als Kinder mit guten Rahmenbedingungen."
Bei Betrachtung der "Gruppen der Grundschulkinder mit und ohne Migrationshintergrund" hätte die Lesekompetenz von Kindern mit Migrationshintergrund "im Mittel tendenziell stärker unter der Pandemie gelitten", so die Studie. Als Konsequenz aus den Studienergebnissen fordern die Forscher "wirksame und umfassende Förderangebote", um die Lücke wieder zu schließen – und das nicht nur an Grundschulen, sondern auch an den weiterführenden Bildungseinrichtungen. Auch dort müsse Leseförderung systematisch mitgedacht werden.
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