eine Analyse von Susan Bonath
Hunderte Mitglieder des Deutschen Bundestages plädieren derzeit noch im Vorfeld für verschiedene Ausprägungen einer Impfpflicht gegen Corona. Dass eine solche Maßnahme die Verbreitung des rasch mutierenden Erregers maßgeblich eindämmen könne, glauben jedoch immer weniger Wissenschaftler. Fragwürdig erscheint das Nutzen-Risiko-Verhältnis der Impfungen insbesondere für jüngere Menschen. Nun haben sich Wissenschaftler mit einem Brief an den Bundestag gewandt. Darin legen sie detailliert dar, warum eine – wie auch immer geartete – Impfpflicht weder zielführend und angemessen noch verfassungskonform wäre.
Über das Schreiben vom 9. März hatte zuerst die Berliner Zeitung berichtet. Wie aus dem von ihr veröffentlichten Dokument hervorgeht, befinden sich unter den 81 Unterzeichnern Ärzte und Mediziner verschiedenster Fachrichtungen: Molekularbiologen, Chemiker und Juristen, aber auch Physiker, Mathematiker, Informatiker, Psychologen und Soziologen.
Auf fast 70 Seiten erklären sie unter Berufung auf zahlreiche Studien und eigene Erkenntnisse und Berechnungen, warum eine Impfpflicht derzeit wissenschaftlich nicht begründbar sei. Dabei gehen sie auch auf die Fragen ein, ob eine Impfpflicht verfassungskonform, ob sie für das erklärte Ziel geeignet, erforderlich und damit insgesamt angemessen wäre. Sie kommen zu dem Schluss, dass
"bei allen Kriterien durchgreifende Bedenken bestehen und die gesetzliche Anordnung einer Impfpflicht demnach verfassungswidrig wäre".
Kein Fremdschutz, geringe Krankheitslast
So sei es wissenschaftlich erwiesen, dass die derzeitig auf dem Markt verfügbaren Impfstoffe nicht vor einer Ansteckung, Erkrankung und Weiterverbreitung des Virus schützten. Bestenfalls reduzierten sie für wenige Wochen das Risiko, schwer zu erkranken. Allerdings sei die Datenlage selbst dazu weitgehend unklar, insbesondere für die Omikron-Variante. Dementsprechend eigne sich eine Impfung höchstens für einen kurzzeitigen Eigenschutz.
Der Eigenschutz könnte zwar theoretisch eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindern. Allerdings seien die Kliniken seit Beginn der Pandemie 2020 zu keiner Zeit überlastet, sondern tatsächlich geringer ausgelastet gewesen als in den Jahren zuvor. Wörtlich schreiben die Autoren dazu:
"Das grundrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht verbietet es, den Einzelnen zu seinem eigenen Schutz zur Impfung zu verpflichten. Verfassungsrechtlich kommt nur das Ziel des Fremdschutzes infrage, wobei es nicht um den absoluten Ausschluss jeglicher Gefährdung der Gesundheit Dritter gehen darf, den der Staat auch sonst nicht garantieren kann."
Hinzu komme, dass sich der Erreger bereits mit der Delta-Variante, umso mehr aber mit der gegenwärtig grassierenden Omikron-Variante deutlich abgeschwächt habe. Der Anteil an schweren Erkrankungen habe inzwischen "das Niveau einer normalen, saisonalen Grippe erreicht", wie Studien zeigten. Behauptungen der politischen Fürsprecher, möglicherweise künftig auftretende Infektionswellen mit gefährlicheren Corona-Varianten durch eine Impfpflicht abwehren zu wollen, seien in jeder Hinsicht rein spekulativ und begründeten keinen derartigen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und die Menschenwürde, heißt es.
"Bisher nie dagewesenes Risikopotenzial"
Schließlich begründen die Autoren, warum eine Impfpflicht nicht angemessen sei. Erstens handele es sich bei den verfügbaren Vakzinen um neuartige Medikamente, die bis heute nur bedingt zugelassen sind. Ihr mittel- und langfristiges Risikopotenzial sei nicht hinreichend untersucht worden, kritisieren die Autoren.
Zweitens überstiegen die von dem für derartige Sicherheitsüberwachung zuständigen Paul-Ehrlich-Institut (PEI) dokumentierten Verdachtsfälle auf Impf-Nebenwirkungen, darunter auch schwerwiegende und sogar Todesfälle, die Meldezahlen zu sämtlichen anderen Medikamenten um ein Vielfaches – auch unter Berücksichtigung von deren massenhaftem Einsatz. Drittens verlasse sich das PEI bisher auf ein passives Meldesystem. Studien zur (wahrscheinlich hohen) Dunkelziffer an Verdachtsfällen gebe es mangels Meldepflicht noch immer nicht. Gemeldete Verdachtsfälle würden unterdessen kaum untersucht.
Viertens prangern die Wissenschaftler an, dass ein gravierendes Risikosignal bislang vollständig ignoriert worden sei: Die höheren Sterbefallzahlen im zweiten Pandemie-Jahr gegenüber 2020, die das Statistische Bundesamt gemeldet hatte. Hängen diese womöglich auch mit den Impfungen zusammen?
Laut Analyse könnten sie nämlich nicht auf Corona-Erkrankungen zurückgeführt werden. Hauptgrund sei: Die Übersterblichkeit im ersten Impf-Jahr sei – entgegen des bekannten Krankheitsprofils von COVID-19 – nicht bei den ältesten, sondern ausschließlich den jüngeren Altersgruppen zwischen 15 und 79 Jahren aufgetreten. Ohne zu klären, ob die Impfungen die Ursache waren, dürfe das Parlament keine Impfpflicht beschließen, so die Autoren.
Übersterblichkeit betrifft nur Jüngere
Für ihre detaillierten Untersuchungen der Übersterblichkeit in Deutschland im Jahr 2021 verwendeten die Autoren die Daten des Statistischen Bundesamtes. Die Behörde hat bereits die vorläufigen Sterbezahlen für die einzelnen Altersgruppen publiziert. Ebenfalls verfügt das Amt über genaue jährlich neu erfasste Bevölkerungszahlen in diesen Altersklassen. Beides haben die Autoren für 2020 und 2021 ins Verhältnis gesetzt, so die Sterberate ermittelt und den Faktor für die steigende Lebenserwartung hinzugerechnet.
Die Ergebnisse haben die Verfasser schließlich mit den errechneten, statistisch zu erwartenden Sterbezahlen abgeglichen. Sie kamen auf erstaunliche Ergebnisse: Während die Erkrankung COVID-19 mit zunehmendem Alter und Grunderkrankungen gefährlicher wird, starben 2021 ausgerechnet weniger über 80-Jährige als erwartet. Die steigenden Todeszahlen in dieser Altersgruppe seien, so die Wissenschaftler, mit ihrem rasanten Anwachsen, also der zunehmenden Alterung der Gesellschaft, zu erklären.
Während sie für 2020 allerdings bei vielen Altersgruppen unter 80 Jahren sogar eine Untersterblichkeit ermittelten, kamen sie für 2021 auf ganz andere Ergebnisse: Lediglich bei den unter 15-Jährigen lag die Anzahl der Todesfälle im erwarteten Bereich. Bei allen anderen Jahrgängen zwischen 15 und 79 Jahren ermittelten sie teils deutlich mehr Verstorbene. Bei den 40- bis 49-Jährigen kamen sie auf eine um neun Prozent erhöhte Sterberate. Bei den 60- bis 79-Jährigen stieg diese demnach um sieben Prozent, bei den 30- bis 39-Jährigen um fünf Prozent und bei den 15- bis 29-Jährigen um gut drei Prozent.
Menschenleben opfern, um andere zu retten?
Die Verfasser des Briefes führen an, dass gewisse Schwankungen bei der Sterblichkeit normal seien. Durchschnittlich weiche pro Jahr der reale Wert um rund 13.000 Fälle vom erwarteten Wert ab. Im ersten Pandemie-Jahr habe die Abweichung nach oben bei rund 4.200 Fällen gelegen, im Jahr der COVID-19-Impfungen habe es hingegen fast 27.000 Tote mehr gegeben – was sogar über der Abweichung des Grippejahres 2018 gelegen habe. Dazu führen sie aus:
"Eine genauere Betrachtung der unerwarteten Todesfälle in den verschiedenen Altersgruppen offenbart, dass ihre 2021 beobachtete hohe Anzahl fast vollständig auf eine überdurchschnittliche Zunahme der Todesfälle in den Altersgruppen zwischen 15 und 79 Jahre zurückgeht, in denen teilweise auffällig hohe Abweichungen vom erwarteten Wert beobachtet werden."
Dies, so die Autoren, widerspreche dem Risikoprofil von COVID-19. Betrachte man die Sterbefallzahlen im Jahresverlauf, werde zudem deutlich, dass diese auffällig der Impfkurve für Erst- und Booster-Impfungen folgten. Das bedeutet: Je mehr Impfungen das zuständige Robert Koch-Institut (RKI) meldete, desto mehr Menschen starben. Ging die Zahl der Impfungen zurück, sank demnach auch die Anzahl der Todesfälle.
Diese Ergebnisse, so heißt es in dem Schreiben weiter, sprächen gegen vielerlei andere mögliche Ursachen. So sei es beispielsweise nicht plausibel, dass verschobene Operationen nachträglich zu auf- und abflauenden Sterbewellen – dies zudem im zeitlichen Zusammenhang mit der Zahl der Impfungen – geführt haben könnten. Werde nicht untersucht, ob der zeitliche Zusammenhang auch ein kausaler sei, nehme der Gesetzgeber mit einer Einführung einer Impfpflicht in Kauf, gegebenenfalls Menschenleben zu opfern, um – mutmaßlich bestenfalls – andere Menschenleben zu retten. Dies sei ethisch nicht vertretbar.
Die Unterzeichner kritisieren ferner, dass die Datenlage – mit Ausnahme der Sterbefallzahlen des Statistischen Bundesamtes – zu unvollständig und zu ungenau sei, um eine Impfpflicht valide abzuwägen. So unterscheide das RKI etwa noch immer nicht, ob jemand wirklich "an" oder nur "mit" Corona starb oder wie viele Patienten in Kliniken rein zufällig positiv getestet, aber wegen ganz anderer Erkrankungen behandelt werden sollten. Mit steigender Inzidenz wachse wahrscheinlich auch der Anteil von Patienten oder Verstorbenen mit einem Zufallsbefund. Dies werde allerdings weiterhin nicht ausgewiesen. Sie betonen:
"Grundsätzlich gilt aus juristischer Sicht erstens, dass die Beweislast auf Seiten des Gesetzgebers, also bei Ihnen, liegt. Es gilt zweitens, dass nicht ausgeräumte triftige Bedenken in einem einzigen der vier Punkte genügen, um eine Impfpflicht als verfassungswidrig auszuweisen."
Drei Anträge für, zwei gegen eine Impfpflicht
Es liegen mehrere Anträge für und gegen eine Impfpflicht vor, über die der Bundestag in der kommenden Woche beraten und abstimmen will. Den Gesetzentwurf für eine allgemeine Impfpflicht ab einem Alter von 18 Jahren haben mehr als 200 Abgeordnete des Bundestages unterzeichnet. In der Mehrheit sind dies SPD- und Grünen-Politiker, aber auch einzelne Abgeordnete der FDP und der Linkspartei sind darunter.
Aus Kreisen der SPD und FDP stammt ein Antrag für eine Impfpflicht erst ab einem Lebensalter von 50 Jahren, dem eine verpflichtende Impfberatung vorgeschaltet werden solle. Erst wenn sich bis September abzeichne, dass sich die Impfquote in Deutschland – inzwischen soll diese bei mindestens 76 Prozent liegen – dadurch nicht erhöhe, würde eine mit Bußgeld bewehrte Pflicht greifen.
Ein Antrag der CDU sieht hingegen eine sogenannte Impfpflicht auf Vorrat für Menschen über 50 oder 60 Jahren vor. Diese Antragsteller fordern die umgehende Erstellung eines Impfregisters. Sie wollen zudem festlegen lassen, dass die Pflicht zur Spritze bei steigenden Zahlen im Herbst rasch eingeführt werden kann.
Daneben wird es um zwei Anträge gegen eine Impfpflicht gehen. Für den einen haben sich einige Linke-Politiker, darunter Sahra Wagenknecht, Andrej Hunko und Sevim Dağdelen, mit einigen FDP-Abgeordneten um Wolfgang Kubicki zusammengetan. Den zweiten Antrag dagegen hat die AfD-Fraktion eingereicht.
Ob eine Impfpflicht in irgendeiner Form durchkommt, dürfte maßgeblich davon abhängen, ob es zwischen den Befürwortern verschiedener Entwurfsvarianten zu Absprachen kommt. Käme also ein Pro-Antrag nicht durch, könnten die anderen beiden Gruppierungen für einen der anderen Anträge stimmen, um so eine Mehrheit für eine Impfpflicht zu erreichen.
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