Eine Analyse von Bernd Müller
Die deutsche Bundesregierung steht vor einem Dilemma: Auf der einen Seite strebt sie danach, die Importe von Erdgas aus Russland zu verringern – auf der anderen Seite ist sie auf günstiges Erdgas angewiesen, um den Kohleausstieg realisieren zu können. In den letzten Monaten zeigte sich, dass hohe Gaspreise den Kohleausstieg – nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten Europäischen Union – bremsten. Doch die Pläne, in Zukunft verstärkt auf verflüssigtes Erdgas (LNG) zu setzen, dürften die Gaspreise dauerhaft auf einem hohen Niveau halten – und es unmöglich machen, die selbst gesteckten Klimaziele zu erreichen.
Der britische Thinktank Ember hatte Anfang Februar eine Analyse der europäischen Strommarktdaten vorgelegt. Das Ergebnis: Bei hohen Gaspreisen drängt der Ausbau der erneuerbaren Energien vor allem Gas- statt Kohlekraftwerke aus dem Markt.
Im vergangenen Jahr seien die Gaspreise um 585 Prozent gestiegen, heißt es bei Ember, und das habe "zu einem der größten Energiepreisschocks seit dem OPEC-Ölembargo von 1973" geführt. Das ließ die Kosten für Strom aus fossilen Gaskraftwerken förmlich explodieren; sie stiegen um das Siebenfache. "Ab Juli war die Stromerzeugung aus fossilem Gas teurer als Kohle". Trotz ebenfalls steigender Preise für das Ausstoßen von Kohlenstoffdioxid wurde die Kohleverstromung im Laufe des Jahres immer günstiger im Vergleich zu Strom aus Gaskraftwerken.
Doch ohne Gaskraftwerke lässt sich die Energieversorgung in Zukunft kaum sicherstellen. Einmal müssen die Kapazitäten der stillgelegten Atommeiler kompensiert werden, dann müssten bis 2030 auch die Kapazitäten der Stein- und Braunkohlekraftwerke ersetzt werden – und das bei steigendem Strombedarf. Für den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ist die Sache deshalb klar: Der Energieträger Gas muss künftig stärker zum Einsatz kommen. BDI-Präsident Siegfried Russwurm betonte kürzlich gegenüber den Zeitungen der Funke-Mediengruppe:
"Den steigenden Strombedarf müssen wir decken, auch wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht."
Russwurm argumentierte: "Nur wenn wir bis dahin eine andere verlässliche belastbare Versorgung haben, kommen wir bis 2030 aus der Kohle raus." Und die Weichen müssten bald gestellt werden, denn der "Bau eines neuen Gaskraftwerks dauere fünf Jahre", und da sei der Genehmigungsprozess noch gar nicht eingerechnet.
Angesichts des sich zuspitzenden Konflikts mit Russland drängen unter anderem die USA die Bundesregierung dazu, die Energiebeziehungen zu Russland zu kappen und sich nach anderen Lieferanten umzuschauen. Das ist allerdings kaum möglich, denn die am Markt verfügbaren Mengen reichen bei Weitem nicht aus, um den europäischen Bedarf zu decken.
Eine große Hoffnung in dem Spiel ist Katar. Das Land ist der weltgrößte LNG-Produzent. Doch dem Energieminister des Landes Saad Sherida al-Kaabi ist bewusst, dass sein Land die Importe aus Russland nicht wird ersetzen können. Laut dem Handelsblatt räumte er ein, dass "die von der EU benötigte Gasmenge von niemandem einseitig ersetzt werden kann, ohne dass die Versorgung anderer Regionen in der Welt beeinträchtigt wird".
Die Mengen, die Katar nach Europa liefern könnte, sind überschaubar. Laut dem Branchendienst S&P Platts beläuft sich die frei verfügbare Menge auf rund 60.000 Kubikmeter täglich. Im Gegensatz zum tatsächlichen Bedarf ist diese Menge vernachlässigbar. Denn allein Deutschland importierte im Jahr 2020 knapp 102 Milliarden Kubikmeter Erdgas.
Bis 2027 soll die LNG-Produktion zwar um 64 Prozent gesteigert werden, aber auch das dürfte für Europa keinen ernsthaften Vorteil mit sich bringen. Denn bis 2030 wird der weltweite Energieverbrauch voraussichtlich um 60 Prozent ansteigen, und die Konkurrenz um das verflüssigte Erdgas wird zwischen den einzelnen Weltregionen weiter zunehmen. Dies prognostizierte das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums.
Ein anderer Gasexporteur, der sich als Lieferant für die EU ins Spiel bringt, sind die USA. Momentan tragen sie rund 3,9 Prozent zum gesamten Gasimport der EU bei. Dabei ist hinlänglich bekannt, dass dieses Gas wesentlich umweltschädlicher ist als das russische. Denn in den USA wird das Erdgas häufig mit der emissionsintensiven Fracking-Methode gewonnen. Kühlung und Schiffstransport des Flüssiggases benötigen noch einmal viel Energie. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) warnte deshalb ein Vertreter des Umweltbundesamtes: Wenn man auch die Emissionen von Förderung und Transport berücksichtige, dann sei das Flüssiggas "fast so klimaschädlich wie Steinkohle".
In der Bundesrepublik fehlt es momentan auch noch an der notwendigen Infrastruktur. Um das gelieferte LNG wieder gasförmig zu machen, braucht es entsprechende Terminals. In Stade und Brunsbüttel sind Terminals geplant, nahe Rostock scheiterte ein Projekt. Gut eine halbe Milliarde Euro soll das Terminal in Brunsbüttel kosten; aber so richtig rund läuft auch dieses Projekt nicht. Wie die FAS berichtete, war kürzlich einer von drei Investoren kürzlich abgesprungen.
Nicht zu vergessen ist auch das Bestreben, die Industrie zu dekarbonisieren. Dazu werden große Mengen an Wasserstoff gebraucht – und eine entsprechende Infrastruktur. Hier soll ebenfalls Erdgas als Brückentechnologie genutzt werden, da der Aufbau einer reinen Wasserstoff-Infrastruktur zurzeit nicht wirtschaftlich ist. Erdgas soll entweder vorerst direkt in den industriellen Prozessen genutzt werden, um Kohle zu ersetzen; bis ausreichende Mengen an sogenanntem grünem Wasserstoff verfügbar sind. Es wird aber auch darüber diskutiert, Wasserstoff aus Erdgas zu gewinnen.
Wie auch immer: Der Bedarf an Erdgas wird in den nächsten Jahren eher steigen als sinken. Und eine realistische Alternative zu den preiswerten Lieferungen aus Russland gibt es nicht.
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