"OB-Wahl 2022 – mit Ihrer Unterstützung!" lautet die Einleitung des aktuellen Beitrags auf der Homepage des amtierenden grünen Bürgermeisters von Tübingen. Der 49-jährige Boris Palmer ist seit 2007 Oberbürgermeister in der Universitätsstadt. Unter normalen Umständen bekommt daher ein absehbar erfolgreicher Bürgermeisterkandidat volle und breite Unterstützung von seiner Partei. Im Falle Palmers gestalten sich die Pläne zur dritten Kandidatur jedoch schwieriger. Dem ambitionierten Kandidaten droht der Ausschluss aus der Partei.
Die grünen Parteikollegen werfen Palmer immer wieder kalkulierte Tabubrüche und Entgleisungen vor, so wie jüngst nach seiner Forderung "Impfunwillige" finanziell abzustrafen. Ein Landesparteitag im Mai des vergangenen Jahres hatte seinerzeit beschlossen, ein sogenanntes Parteiordnungsverfahren gegen ihn anzustrengen. Über den Rauswurf sollte bis zur potenziellen Nominierung ein parteiinternes Schiedsgericht auf Landesebene entscheiden. Auslöser für das Verfahren war ein Facebook-Beitrag Palmers im Mai über den früheren deutschen Fußball-Nationalspieler Dennis Aogo, in dem Palmer das sogenannte N-Wort benutzt. Palmers Reaktion – provokativ: "Diese Entschuldigungsforderungen sind ja Teil der Empörungsrituale, mit denen versucht wird, Leute mundtot zu machen."
Da er nun befürchten musste, keinerlei Rückhalt mehr in seiner Partei zu bekommen, suchte er den benötigten Zuspruch direkt bei den Bürgern der Stadt Tübingen. So heißt es in dem Beitrag auf seiner Webseite vom Sonntag dieser Woche: "Ihre Wertschätzung lässt mich staunen vor Glück: Mehr als 800 Wahlberechtigte haben einen Aufruf unterzeichnet, der mich darin unterstützen will, erneut für das Amt des Oberbürgermeisters in unserer wunderbaren Stadt zu kandidieren." Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) wusste zu berichten, dass Palmer auf der Suche nach Unterstützung für seinen möglichen Wahlkampf als parteiloser Kandidat zudem in den vergangenen Tagen 100.000 Euro gesammelt habe.
Auf der Webseite liest sich das so: "Mehr als 800 Wahlberechtigte haben einen Aufruf unterzeichnet, der mich darin unterstützen will, erneut für das Amt des Oberbürgermeisters in unserer wunderbaren Stadt zu kandidieren. Eine ähnlich große Zahl von Menschen hat mit einer Geldspende diese Unterstützung schon geleistet. So ist das erforderliche Budget für einen Wahlkampf in nur einer Woche zusammen gekommen."
Die grünen Parteigenossen in Tübingen zeigen sich schwer enttäuscht von Palmers Mitteilung. "Wir bedauern, dass er sich nicht dem Votum der Partei stellt", wird Marc Mausch, Sprecher des Tübinger Grünen-Stadtvorstandes, am Sonntag von der dpa zitiert. Das ist die moderate Reaktion. Die ehrlichere Wahrnehmung Mauschs gegenüber der dpa lautet: "Die Partei ist ihm egal, das hat er schon gezeigt." Das Parteiausschlussverfahren als Grund hält er für vorgeschoben. Auch als Nicht-Grüner hätte Palmer demnach für die grüne Partei als OB-Kandidat antreten können. Damit muss nun für die geplante Urwahl, mit der die Tübinger Grünen einen OB-Kandidaten bestimmen wollten, komplett umdisponiert werden. Ein neuer Kandidat muss gesucht und gefunden werden.
Die frisch gekürte neue grüne Parteivorsitzende Ricarda Lang reagierte auf das Thema angesprochen kurz angebunden, während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit ihrem designierten Co-Chef Omid Nouripour: "Die Entscheidung über eine Kandidatur, das ist seine eigene Entscheidung, die trifft er für sich alleine. (...) Und am Ende ist es eine Entscheidung, die die Tübingerinnen und Tübinger zu treffen haben aus meiner Sicht."
Palmer erläuterte in dem Statement auf seiner Webseite etwas detaillierter seine Beweggründe: "Mancher Streit hinterlässt persönliche Spuren. Hinzu kam der Konflikt mit meiner Partei. Es fällt mir schwer, ohne die Unterstützung der Partei zu kandidieren, der ich aus Überzeugung seit 25 Jahren angehöre. Meine politische Heimat sind und bleiben die Grünen in Baden-Württemberg. Ich möchte zu ihrem Erfolg und dem der Regierung Kretschmann beitragen. Doch bei dieser Wahl ist mir das aus bekannten Gründen verwehrt."
Palmer gilt als ähnlicher Hardliner und Freund von unkonventionellen, für Grüne eher untypischen Statements wie der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, wenn sie dem schlichten Machterhalt dienen. So irritierte Kretschmann Ende letzter Woche mit provokativen Wahrnehmungen und Empfehlungen:
"Die Deutungshoheit über ihr Fach sollten die Wissenschaftler unbedingt haben. (...) Aber sie sollten auch dabei bleiben und es unterlassen, politische Ratschläge zu geben. (...) Zum Beispiel, ob jetzt eine Impfpflicht politische Kollateralschäden erzeugt – was sie zweifellos auch tun wird –, das zu bewerten liegt jetzt nicht in der Kompetenz der STIKO oder von wem auch immer."
Bezugnehmend auf den weiterhin drohenden Parteiausschlusses Palmers gebe es ja "einen sehr klaren Beschluss vom Landesparteitag", so Ricarda Lang auf der Pressekonferenz vom Montag. "Das Verfahren liegt jetzt beim Landesschiedsgericht. Ich glaube, da ist es auch an der richtigen Stelle", so ihre abschließende Einschätzung zur Causa Palmer. Gegenüber dem Deutschlandfunk (DLF) betonte die Parteivorsitzende der Grünen in einem Interview am 30. Januar, dass die Gesellschaft ihrer Meinung nach durch äußere Faktoren immer wieder zu Veränderungen gezwungen ist. Die Frage sei nur, ob man diese Veränderung gestalte oder nicht. Die Grünen stünden wie keine andere Partei für den Willen zur Veränderung. Je nach Blickwinkel der Betrachtung, also Drohung oder schlichte Warnung, gibt Lang dem DLF zu Protokoll:
"Wir sind keine Partei, die den Menschen nichts zumutet."
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