Die Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) hat am Donnerstag ein Gutachten zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in den Jahren 1945 bis 2019 vorgestellt. Den Auftrag hierzu erteilte die Erzdiözese München und Freising im Februar 2020. Dabei sollte der Fokus auf der rechtlichen Bewertung dessen liegen, wie die Vorgesetzten der tatsächlichen oder mutmaßlichen Täter und die kirchlichen Würdenträger der Erzdiözese auf die Verdachtsfälle und Verurteilungen reagierten.
In dem 1893 Seiten umfassenden Gutachten listen die Rechtsanwälte 497 mutmaßliche Opfer des sexuellen Missbrauchs in dem die Untersuchung umfassenden Zeitraum auf, davon 247 männlichen und 182 weiblichen Geschlechts. In 68 Fällen habe eine eindeutige Zuordnung nicht vorgenommen werden können. Sowohl bei den männlichen als auch bei den weiblichen Geschädigten war die Altersgruppe der 8- bis 14-Jährigen mit 59 Prozent beziehungsweise 32 Prozent deutlich überrepräsentiert.
Gegenstand der Studie waren Vorwürfe gegen 261 Personen, darunter 205 Kleriker und 56 Laien. Bei 235 Personen, darunter 182 Kleriker und 53 Laien, hätten sich nach dem Untersuchungsergebnis Hinweise auf insgesamt 363 Sachverhalte des sexuellen Missbrauchs von Kindern ergeben.
Die Gutachter sehen im Hinblick auf 65 Sachverhalte die erhobenen Vorwürfe als erwiesen, bei 146 Sachverhalten als zumindest plausibel und in 11 Sachverhalten als widerlegt an. Bei 141 Sachverhalten hätten die vorliegenden Erkenntnisse keine ausreichende Beurteilungsgrundlage für eine abschließende gutachterliche Würdigung geboten. Insgesamt seien 90 staatliche Ermittlungsverfahren durchgeführt worden. In 46 Fällen kam es zu einem Strafurteil beziehungsweise Strafbefehl.
Zum Umgang der Erzdiözese mit den Fällen stellen die Gutachter fest, dass 40 Kleriker trotz des Verdachtes weiter in der Seelsorge tätig gewesen seien, darunter 18 rechtskräftig Verurteilte. Reaktionen gegenüber verdächtigen Klerikern blieben nach Ansicht der Anwälte vor 2010 hintern dem – vor allem nach kirchlichem Recht – Gebotenen weit zurück:
"Nachdem insbesondere in den 1950er Jahren noch vereinzelt disziplinarische Maßnahmen erfolgten, war der Umgang mit den Klerikern anschließend von Milde und Nachsicht und der Motivation geprägt, keine größere öffentliche Wahrnehmung der Missbrauchsthematik zu erzeugen. Sogar strafrechtlich verurteilte Priester wurden weiter in der Seelsorge verwendet, teilweise sogar ohne jede Beschränkung in der regulären Gemeindearbeit."
Dagegen seien bei Laienmitarbeitern stets "aus Sicht der Gutachter angemessene dienst- und arbeitsrechtliche Maßnahmen" ergriffen worden.
Nach 2010 habe sich der Umgang mit den Missbrauchsfällen zugunsten der Geschädigten verändert. Doch sei die Zuwendung der Kirche zu den Missbrauchsopfern immer noch unzureichend, kritisiert das Gutachten.
Persönlich belastet durch die Ergebnisse der Untersuchung wird der emeritierte Papst Benedikt XVI. (weltlicher Name Joseph Ratzinger), der das Erzbistum München und Freising zwischen 1977 und 1981 leitete. Ihm wird im Gutachten in vier Fällen Fehlverhalten angelastet. Zwei der Fälle betreffen von staatlichen Gerichten verurteilte Missbrauchstäter, die als Priester weiter in der Seelsorge tätig sein durften.
Kritiker werfen Ratzinger schon seit geraumer Zeit Fehlverhalten beim Umgang mit einem Priester aus Nordrhein-Westfalen vor. Dieser soll in NRW Jungen missbraucht haben. Dennoch habe Ratzinger seiner Versetzung nach Bayern zugestimmt, wo er rückfällig und wegen Kindesmissbrauchs rechtskräftig verurteilt wurde. Auch in dem jetzt vorliegenden Gutachten wird dieser Fall angesprochen.
Dem heutigen Erzbischof Kardinal Reinhard Marx halten die Anwälte Fehlverhalten im Umgang mit zwei Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch vor.
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