von Bernd Müller
Die deutsche Wirtschaft ist auf der Suche – nach Fachkräften. Bis zum Jahr 2030 könnten hierzulande Hunderttausende von ihnen fehlen. Es könnte dann an IT-Fachleuten fehlen, an Lehrern, an Ärzten und am Pflegepersonal, an Ingenieuren und Handwerkern, an Lkw-Fahrern.
"Die ersten Jahrgänge der Babyboomer gehen schon in Rente", sagte kürzlich Rainer Dulger, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). 2025 komme dann die "demografische Wende" mit voller Wucht. Dann käme der Punkt, an dem mehr Menschen in Rente gingen als auf den Arbeitsmarkt nachrückten.
Bis 2030 gingen so viele in Rente, dass etwa drei Millionen Vollzeitkräfte fehlen würden, schrieb am Freitag das Handelsblatt. Studien legen allerdings auch einen dramatischeren Mangel an Fachkräften nahe. So schätzt ihn das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) auf etwa fünf Millionen fehlender Arbeitskräfte im Jahr 2035. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) schätzte ihn sogar auf gut sieben Millionen bis Mitte des kommenden Jahrzehnts.
In vielen Bereichen zeigen sich die Probleme schon heute – und in Zukunft könnten sie sich noch weiter verschärfen. Im Handwerk zum Beispiel. Schon heute muss man mitunter Monate warten, bis Handwerker an die Arbeit schreiten, nachdem sie einen Auftrag angenommen haben. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks klagt, dass mindestens 250.000 Handwerker fehlen.
Ähnlich sieht es bei den Lkw-Fahrern aus. In der Bundesrepublik gibt es rund 937.000 "Fachkräfte für Fahrzeugführung", wie Lkw-Fahrer offiziell heißen, und ein Drittel von ihnen war im Jahr 2020 mindestens 55 Jahre alt. Schon heute fehlen nach Schätzungen des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) bis zu 80.000 Fahrer. Dem Gewerbe fehlt aber auch der Nachwuchs. "In Deutschland gehen jedes Jahr rund 30.000 Berufskraftfahrer in Rente, aber nur 15.000 neue werden ausgebildet", warnte BGL-Hauptgeschäftsführer Dirk Engelbrecht im Deutschlandfunk.
Auch im öffentlichen Dienst fehlen nach Einschätzung des DBB Beamtenbund und Tarifunion fast 330.000 Beschäftigte. Der Personalbedarf wachse seit Jahren um rund zehn Prozent jährlich – und die demografische Entwicklung verschärfte das Problem zusehends. Bis 2030 gehen rund 1,27 Millionen Beschäftigte von Bund, Ländern und Kommunen in Rente. Dann könnte eine Personallücke von rund 730.000 Beschäftigten entstehen, warnt eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey, und dadurch könnte die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Hand gefährdet sein.
Allerdings lässt sich der Fachkräftemangel nicht nur mit dem demografischen Wandel erklären. Manche Berufe sind wegen der niedrigen Löhne und der schlechten Arbeitsbedingungen unattraktiv.
Dirk Engelbrecht machte zum Beispiel die Hauptursache für den Mangel an Lkw-Fahrern in den niedrigen Löhnen aus. Andere Gründe seien das Image des Berufes sowie die allgemeine Verkehrslage in der Bundesrepublik. Ein weiterer Minuspunkt sei, dass sich Beruf und Familie kaum miteinander vereinbaren ließen.
Es gibt keinen einfachen Weg, diese Arbeitsbedingungen zu verbessern – der Konkurrenzkampf auf dem europäischen Markt macht es nicht einfach. Um Transportkosten niedrig zu halten, seien in den letzten Jahren auch zunehmend Transportunternehmen aus osteuropäischen Ländern eingesetzt worden und fange der Mindestlohn bei zwei Euro pro Stunde an. Ein Mittelständler in Deutschland könne das nicht kompensieren, so Engelbrecht. Sozialdumping ist die Folge.
Im Handwerk ist es ähnlich. Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer beklagte kürzlich, dass sich zu wenig junge Menschen für eine Ausbildung in einem handwerklichen Beruf interessierten. Rund 18.000 Ausbildungsplätze blieben jedes Jahr unbesetzt. Eine "Fachkräfteinitiative" solle den Umschwung und die nötige Wertschätzung der beruflichen Ausbildung bringen. Und das müsse ganz schnell gehen.
Der Leiter des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Bernd Fitzenberger, beschrieb im November die Situation auf dem Ausbildungsmarkt mit: "enttäuschend". 40 Prozent der Ausbildungsplätze, die von Betrieben angeboten wurden, waren im September 2021 noch frei. Besonders schlimm sei die Situation am Bau und in kleineren Betrieben gewesen.
Damit sich daran in Zukunft etwas ändern kann, muss sich aber auch die Haltung der Betriebe gegenüber den Auszubildenden ändern. Denn nach wie vor werden oftmals nicht einmal die Mindeststandards in der beruflichen Ausbildung eingehalten. Das zeigte der "Ausbildungsreport" des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in den letzten Jahren immer wieder – besonders für die kleineren Betriebe.
Im Report von 2021 heißt es: Ungefähr jedem vierten Auszubildenden wurde die ohnehin knappe Ausbildungsvergütung gekürzt, obwohl es dafür keine Rechtsgrundlage gibt. Besonders häufig kam das in kleinen Betrieben mit bis zu zehn Beschäftigten vor; hier lag die Quote bei 37,9 Prozent. Auch knapp ein Fünftel der für den Report Befragten gab an, dass ihm seit Beginn der Pandemie mindestens einmal der Urlaub gekürzt wurde; auch das ist nicht erlaubt. Bei der Mehrheit der Betroffenen (61,6 Prozent) ging es dabei um bis zu fünf Urlaubstage.
Schon in den Jahren zuvor war immer wieder in dem Ausbildungsreport zu lesen, die Azubis müssten Dinge tun, die gar nicht zu ihrer Ausbildung gehörten: Toilette putzen, Gläser spülen oder tagelange Renovierungsarbeiten im Betrieb ausführen. Teilweise beklagten sie sich, dass ihnen im zweiten oder dritten Lehrjahr noch immer nichts beigebracht wurde.
Wie junge Menschen für das Handwerk begeistert werden können, wenn sie in der Ausbildung oft nur als billige Arbeitskräfte eingesetzt werden, erklärte Wollseifer nicht. DGB-Jugendreferent Joscha Wagner rief bei Vorstellung des letzten Reports dagegen die "Arbeitgeber" auf, für eine gute Qualität der Ausbildung zu sorgen und die geltenden Gesetze einzuhalten.
Doch bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne stellen für die Wirtschaftsvertreter offenbar nur lästige Kosten und keine Investitionen in die Zukunft dar. Denn sie setzen in erster Linie darauf, im Ausland "beruflich qualifizierte Fachkräfte" anzuwerben. Bislang habe man sich dabei zu sehr auf den akademischen Bereich konzentriert, so Wollseifer. Jetzt müsse man sich mehr um beruflich Qualifizierte bemühen. Innerhalb kurzer Zeit müsse es gelingen, "Zehntausende fachlich qualifizierte Leute pro Jahr nach Deutschland zu holen".
Von der Bundesregierung erwarten die Wirtschaftsvertreter deshalb, die Verfahren für die Zuwanderung zu vereinfachen, zu beschleunigen und bürokratische Hürden abzuschaffen. BDA-Präsident Dulger sagte: "Wir brauchen ein funktionierendes Gesetz, das qualifizierte Zuwanderung ermöglicht und das aber auch einen Apparat vorhält", über den sich Interessenten an jede deutsche Botschaft wenden könnten.
Daniel Terzenbach, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, wartete im November mit einem weiteren Vorschlag gegen den Fachkräftemangel auf: Die Leute sollen einfach später in Rente gehen und länger arbeiten. Im politischen Berlin wird darüber schon diskutiert; aber noch hält man sich mit Forderungen in der Öffentlichkeit zurück.
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