Zero COVID, so lautete noch vor gar nicht allzu langer Zeit die Zauberformel für den ultimativen Gesundheitsschutz vor COVID-19. Die von Anfang an sehr prominent verbreitete Idee: SARS-CoV-2 überall und so lange zu bekämpfen, bis es einfach nicht mehr da ist. Der gern geladene Talkshow-Experte, Mediziner und heutige Gesundheitsminister Karl Lauterbach ließ über die Sinnhaftigkeit des ebenso schlichten wie drastischen Konzepts wenig Zweifel aufkommen: "Insofern ist eine Zero-COVID-Strategie als Ziel sehr wertvoll und wichtig", teilte der Gesundheitsökonom in einem Vorwärts-Interview im Februar mit.
"Ist der Lockdown in Deutschland streng genug?", lauteten die flankierenden Fragen verschiedenster bekannter Medienerzeugnisse. Die Forderung: "Wir sollten das Ziel von null Fällen anpeilen." Unterschiedliche Experten untermauerten die entsprechende Notwendigkeit und verwiesen dabei auf Erfolgsgeschichten wie Australien, dessen Einwohner nach wie vor unter einem der wohl strengsten Corona-Regelwerke leben müssen. Ein Land, in dem längst Soldaten die Einhaltung der Corona-Vorschriften und Lockdowns überwachen helfen.
Und trotz strengster Maßnahmen blieb etwa in Sydney die Zahl positiver Testungen "auf einem für australische Verhältnisse hohen Niveau". Es waren Virologen wie Hendrik Streeck, die Zero COVID von Beginn an für wenig zielführend hielten. Man werde lernen müssen, mit dem Virus zu leben, lautete die Botschaft.
Im Januar wurde dann die Bewegung #ZeroCOVID aus der Taufe gehoben, um einen "solidarischen europäischen Shutdown" zu fordern und damit die Zahl der Neuinfektionen auf Null zu drücken. Es handelt sich um eine Initiative von Wissenschaftlern, Gesundheitspersonal, Künstlern und Aktivisten, zu denen etwa auch die Klimaaktivistin Luisa Neubauer zählt. Und obwohl es neben den nun noch bekannteren Pharmakonzernen vor allem auch Digital-Konzerne von Google bis Amazon sind, die zu den großen Gewinnern der Corona-Krise und Maßnahmenpolitik zählen, versteht man sich intern als "kapitalismuskritische Kampagne", die den Gesundheitsschutz über alles stelle.
Unter umgekehrten Vorsätzen als heutzutage die Impfpflicht-Skeptiker und Maßnahmenkritiker, die mit "Spaziergängen" zunehmend auf sich aufmerksam machen, waren es vor noch gar nicht allzu langer Zeit die Null-COVID-Anhänger, die auf den Straßen für noch härtere Maßnahmen protestierten – wenn auch mit weit bescheideneren Teilnehmerzahlen.
Seit einigen Monaten ist es jedoch wesentlich ruhiger um die Zero-COVID-Fraktion geworden. Gleichzeitig wurden etwa in Hamburg zuletzt die Maßnahmen erneut und damit weiter verschärft. Es sind die angesichts der Omikron-Variante vermeldeten Infektionszahlen die erneut für Unruhe sorgen.
Zu den kritischen Beobachtern dieser Entwicklung zählt etwa der ehemalige Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel und Herausgeber der Tageszeitung Die Welt Stefan Aust. "Als Erstes wird man wahrscheinlich noch auf sehr viel höhere Infektionszahlen kommen, wenn man noch mehr Leute testet", stellte der Autor und Journalist am Dienstag zunächst fest, um dann die Frage zu stellen:
"Ist eigentlich jemand infiziert oder krank, der positiv getestet ist, wenn er keine Symptome zeigt. Das ist, glaube ich, das entscheidende Problem dabei. Und ich glaube, die reinen Infektionsraten, also die Zahl, wie viele Leute positiv getestet sind, auch wenn sie keine Symptome zeigen, kann eigentlich nicht maßgeblich dafür sein, ob man wieder einen weiteren Lockdown einführt mit den Folgen, die ja auch sehr unangenehm sind."
Vielfach habe die Politik Maßnahmen, wie etwa Lockdowns, wohl deshalb verkündet, "weil man gedacht hat, man muss Aktivität demonstrieren". In dieser Hinsicht meint Aust einen gewissen "Meinungsumschwung" auszumachen. Worum es vor dem Hintergrund von Omikron nun vor allem auch gehe, sei, dass "die Politiker, die Behörden offen und ehrlich mit den Zahlen umgehen". Dabei verweist Aust auf die jüngsten Debatten zu den Infektionszahlen. So war für Bayern und einige Zeit später auch für Hamburg bekannt geworden, dass schlicht alle Fälle, in denen der Impfstatus nicht bekannt war, als ungeimpft gezählt und damit die Zahlen verzerrt worden waren.
Hinzu komme nun, so Aust, dass man nicht genau wisse, "wie sicher tatsächlich die Impfungen sind".
"Eigentlich ist das Erschreckendste, dass man zwei Jahre, nachdem das Ganze begonnen hat, immer noch nicht besonders gut Bescheid weiß, weder über die Zahlen noch über die Daten noch über die Wirksamkeit."
Neben dem Zero-COVID-Ansatz kam Anfang des vergangenen Jahres auch der Ruf nach "No COVID" auf. Die Gruppe der Mediziner, Wissenschaftler und Aktivisten, die die No-COVID-Strategie unterstützt, will die Inzidenz durch entsprechende Maßnahmen dabei nicht auf Null, sondern europaweit zunächst auf einen Wert von unter 10 auf 100.000 Einwohner pro Woche drücken. Wo dies gelungen ist, sollen die entsprechenden Regionen zu unter scharfer Beobachtung stehenden "Grünen Zonen" erklärt werden, in denen die Beschränkungen aufgehoben werden dürfen.
Zu den Vertretern von No COVID gehören u. a. die Physikerin Viola Priesemann, die in der Zwischenzeit prominente Virologin Melanie Brinkmann, Clemens Fuest, Präsident des Münchner ifo-Instituts, sowie der ebenfalls am ifo-Institut tätige Ökonom Andreas Peichl, aber auch der Soziologe Heinz Bude. Die Verfechter von No COVID fordern ein europaweit einheitliches Vorgehen bei der massiven Senkung der Infektionszahlen. Sowohl die Anhänger der Zero- als auch der No-COVID-Strategie eint die Analyse, wonach der Ansatz "flatten the curve" krachend gescheitert sei. Nicht selten werden die sich in ihrer Zielsetzung sehr ähnelnden Konzepte verwechselt.
Aust führt Neuseeland und Australien als Beispiele für das Scheitern von No COVID an und ergänzt:
"Die Virologen, die eine No-COVID-Strategie vertreten haben, sind in Wirklichkeit Quacksalber."
Auch das Vorgehen mittels Lockdown und sogenannte "Wellenbrecher" samt Impfungen, damit "alles gut" werde, habe sich "nicht als richtig herausgestellt". Aktuell deute laut Aust einiges darauf hin, dass sich "die schwedische Vorgehensweise, vernünftig und ruhig" mit dem Corona-Geschehen umzugehen, bewährt habe. Auch in Hinblick auf die sich weiter ausbreitende Omikron-Variante formuliert der Chefredakteur der Welt-N24-Gruppe den Gedanken einer "natürlichen Impfung (...), in dem sich Leute infizieren und dann so eine Art von Herdenimmunität eintritt".
Aktuelle Daten verweisen darauf, dass Omikron zu milden Krankheitsverläufen nach einer tatsächlichen Infektion führt. Der Grimme-Preisträger weist in diesem Zusammenhang auf Stimmen aus Großbritannien oder etwa Dänemark hin, die angesichts dessen Hoffnung auf ein baldiges Ende der COVID-19-Pandemie weckten. "Schön wär's", ergänzt Aust.
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