STIKO-Chef Mertens: "Ich würde mein siebenjähriges Kind jetzt nicht impfen lassen"

Der STIKO-Vorsitzende Thomas Mertens begründet seine Vorbehalte mit der weiterhin unzureichenden Datenlage. Ob die STIKO für die Altersgruppe der 5- bis 11-Jährigen demnächst eine Impfung empfehlen wird, sei noch offen. Hinsichtlich bestimmter Entscheidungen der STIKO räumt Mertens Fehler ein.

In einem Podcast-Interview für die FAZ äußert sich Thomas Mertens, Mitglied und seit 2017 der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut (RKI), jüngst kritisch zur aktuellen Diskussion um die Impfung der Altersgruppe der Fünf- bis Elfjährigen.

Die Diskussion erhält neuen Aufwind, weil das Unternehmen BioNTech/Pfizer über Medien mitteilen ließ, dass der Kinderimpfstoff für diese Altersgruppe nun doch früher als angekündigt ausgeliefert werden könne, nämlich schon am 13. Dezember. Die europäische Arzneimittelagentur EMA hatte vergangene Woche das BioNTech-Vakzin für Kinder ab fünf Jahren zugelassen.

Die Moderatorin konfrontierte Mertens mit der Mutmaßung, dass es in den Kinderarztpraxen "einen Ansturm von Eltern, die ihre Kindern impfen lassen wollen" gebe, und fragte daher, warum die Behörde sich noch nicht eindeutig positioniert hat.

Mertens erläuterte, dass die STIKO an einer entsprechenden Erklärung arbeite, die bis zur Anlieferung des Kinderimpfstoffs in Deutschland auch veröffentlicht werde. Eine dementsprechende "Empfehlung" diene vor allem der absoluten Sicherheit und dem größtmöglichen Nutzen für jedes einzelne Kind.

Er erklärte, dass die Europäische Arzneimittelkommission EMA den Impfstoff "nur zulasse", aber sie "prüfe nicht die einzelnen Indikationen für die jeweiligen Länder".

Die EMA "bearbeite" – also betrachte und prüfe – "nur die Unterlagen der Hersteller". Dies sei eine reine "Papierprüfung". Die Aufgabe der STIKO sei es hingegen, für die jeweilige Altersgruppe die "Indikation zu erstellen". Dies bedeute, man müsse abschätzen, besser noch wissen, wie schwerwiegend die Krankheit für die Kinder wirklich sei – und dies "sei unabhängig davon, ob die Eltern die Kinderarztpraxen stürmen" werden.

Es müsse daher sehr genau erarbeitet werden, was die Impfung von Kindern für "das Fortschreiten der Pandemie bedeuten würde" und wie "die möglichen Restrisiken der Impfung dieser Altersgruppe" aussähen.

Laut Mertens könnte die Indikation einer Kinderimpfung nicht dadurch beschlossen werden, dass "man falsche politische Entscheidungen durch eine Impfung korrigieren würde". Er sehe den Hauptgrund der "Erstürmung der Arztpraxen" darin, dass die Eltern "soziale Nachteile" für ihre Kinder befürchten. Dies sei seiner Meinung nach aber ein höchst "fragwürdiges Argument".

Aus aktueller Sicht der Pädiater, also der Kinderärzte, und der STIKO wäre die öffentlich und sozial "auferlegte Beschränkung der Kinder nicht gerechtfertigt".

Er äußerte sich irritiert, dass ein Großteil der Gesellschaft die Kinderimpfung so vehement einfordere, gerade auch in Bezug auf die ausbleibende oder ungenügende Diskussion der Dosierung. Zu Beginn des Jahres wäre noch eine generelle Skepsis gegenüber dem Impfstoff und dem Impfvorgang an sich vorhanden gewesen. In Bezug auf die Diskussion von Kinderimpfungen habe er jetzt das Gefühl, dass jegliche Bedenken nicht mehr vorhanden seien. Mertens stellte klar:

"Die wechselnden Stimmungen in der Öffentlichkeit und auch bei den Politikern können ja nicht das Maß für eine STIKO-Entscheidung sein."

Die Gruppengröße bei der zugrundeliegenden Zulassungsstudie für die Altersgruppe der 5– bis 11-Jährigen wäre als eher klein anzusehen. Die knappberechnete Dauer (2,3 Monate) der Studie sei für ihn zudem "nicht berauschend", lautet unumwunden die Kritik von Mertens hinsichtlich der finalen Entscheidung der EMA. Daraus resultierten "eher wenig Daten der Verträglichkeit". Er betonte, die Tatsache, dass in den USA und Israel diese Altersgruppe schon geimpft wurde, ergäbe keine Datenlage im klassischen Sinne, da man etwaige Reaktionen und breitere Erkenntnisse ja auch daraus erst noch abwarten müsse.

Auf die abschließende Frage, ob Mertens denn ein eigenes Kind dieser Altersgruppe aktuell impfen lassen würde, antwortete er: "Also ich würde es wahrscheinlich nicht impfen lassen und zwar letztlich als Konsequenz aus alledem, was geäußert wurde".

Er könne die aktuelle Ungeduld gegenüber der STIKO nicht nachvollziehen. Genauso würde er die Aussage vom Bundesgesundheitsminister Jens Spahn "Ich glaube, dass das wirklich wichtige Instrument der Ständigen Impfkommission keines ist für Pandemiezeiten" lediglich zur Kenntnis nehmen:

"Es wird viel gesagt, es wird viel geredet von vielen, aber nur ein Teil davon ist nachprüfbar richtig, und dazu gehört letztendlich auch die Aussage von Herrn Spahn."

In der aktuellen Ausgabe der ARD-Sendung Panorama vom 2. Dezember räumt dagegen in einem andere Zusammenhang auch der STIKO-Vorsitzende Mertens Versäumnisse ein: Es wäre "wahrscheinlich günstiger gewesen, mit dem Boostern früher anzufangen".

In dieser Sendung wird auch der ehemalige Leiter des israelischen Impfprogrammes, Ronni Gamzu, zu dieser Thematik befragt. Er zeigte sich gegenüber Panorama schockiert über die Langsamkeit der deutschen Kolleginnen und Kollegen: "Das war einfach total falsch. Wir hatten klare Beweise, wir haben die Daten. Es gab keine wissenschaftliche Basis dafür zu sagen, die Auffrischungsimpfung bringe nur den Über-65- oder Über-70-Jährigen etwas. Wir haben gesehen, dass die Zahl der Antikörper auch bei 40-Jährigen zurückgeht. Was für Beweise braucht man denn noch?"

Mertens entgegnet dazu, man hätte bei der STIKO die "israelischen Daten und die Evidenz erst aufarbeiten" müssen. "Der Vergleich mit Israel ist an vielen Punkten nicht möglich", so relativiert Mertens die Kritik. Die Evidenz in einem anderen Land sei eben nicht einfach auf jedes andere Land übertragbar.

Im Rahmen des Panorama-Beitrags erklärt Mertens zudem, "es sei nicht Aufgabe der STIKO, die Umsetzung der Impfung" zu organisieren oder darüber zu befinden, "wie die Impfstoffe beschafft werden, wie die Impfstoffe verteilt werden. Das sind alles Dinge, die die STIKO überhaupt nicht betreffen".

Die Ausstrahlung dieser Panorama-Sendung erfolgt am 2. Dezember um 21:45 Uhr in der ARD.

Mehr zum Thema - Jonglieren mit den Intensivbetten – Wie die Grundrechte zweifelhaften Zahlen angepasst werden