von Susan Bonath
Die Grundsicherung erhöhen, Sanktionen auf das Existenzminimum als Druckmittel abschaffen: Mit Forderungen wie diesen waren die Grünen in den letzten Jahren immer wieder in Richtung der Partei Die Linke vorgeprescht. Sie schienen geläutert ob ihrer Regierungspolitik von 2003, als sie die sogenannten Hartz-Reformen gemeinsam mit der SPD schrittweise einführten und damit dem Niedriglohnsektor zu einem Boom verhalfen. Nun, da eine Koalition aus Grünen, SPD und FDP immer wahrscheinlicher wird, scheint sich ihr Wunsch mit dem als Hartz-IV-Ersatz geplanten Bürgergeld zu erfüllen. Doch der Schein trügt: Der repressive Charakter soll keineswegs verschwinden, Verbesserungen soll es wenige geben. Ändern soll sich laut Plänen der über ihre künftige "Ampel-Koalition" Diskutierenden vor allem der Name.
Pflicht zur Lohnarbeit bleibt
"Anstelle der bisherigen Grundsicherung (Hartz IV) werden wir ein Bürgergeld einführen", postulieren die Ampel-Fraktionen in ihrem Sondierungspapier unter dem Titel "Soziale Sicherheit bürgerfreundlich gestalten". Es folgen ein paar warme Worte über "die Würde des Einzelnen" und jedermanns Recht auf gesellschaftliche Teilhabe. Was genau SPD, FDP und Grüne als solches erachten, wird sehr schnell klar. Das neue Bürgergeld solle vor allem "Hilfen zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt in den Mittelpunkt stellen". An der Bürde der Lohnabhängigen, ihre Arbeitskraft an den Staat oder ein Unternehmen verkaufen zu müssen, um leben zu können, wollen sie nicht rütteln.
Dafür werde man, so heißt es weiter, an den Mitwirkungspflichten festhalten. Lediglich will man prüfen, "wie wir hier entbürokratisieren können". Wer daran festhält, wird die "Mitwirkungspflichten", die eben bedeuten, alles dafür tun zu müssen, um wieder schnell eine abhängige Lohnarbeit zu bekommen, auch mit Sanktionen durchsetzen. Die Grünen plädierten zwar dagegen. Gegen die SPD und die FDP werden sie sich aber nicht durchsetzen können. Im Hartz-IV-System gibt es für diese Androhung, die offiziell als Existenzminimum deklarierten und penibel kleingerechneten Hartz-IV-Bezüge zu kürzen, sobald Betroffene eine Auflage nicht hinreichend erfüllen, bereits eine wohlklingende Umschreibung: fördern und fordern.
Die beginnende Inflation mit teils drastischen Preissteigerungen hin oder her: Über die Höhe dieses Existenzminimums, gegebenenfalls eine schneller Anpassung und neue Berechnungsmethoden, steht in der Übereinkunft der Fraktionen nichts. Die beiden wichtigsten Kritikpunkte, etwa von Sozialverbänden, nämlich die unzureichende Leistungshöhe und das Sanktionsregime, mit dem Bedürftige in schlecht bezahlte, teils arbeitsrechtlich bedenkliche Jobs genötigt werden, wollen die Regierungswilligen nicht antasten.
Aussicht auf Miniverbesserungen
Ein paar kleine Verbesserungen versprechen die Fraktionen dennoch. Ihr erster Punkt sind die von den Kommunen festgelegten Mietobergrenzen inklusive maximaler Wohnungsgrößen. Derzeit darf etwa ein Alleinstehender je nachdem, wo er wohnt, höchstens 45 bis 50 Quadratmeter bewohnen. Der Preis für Miete und Nebenkosten darf eine bestimmte Summe nicht übersteigen. Solche Wohnungen sind in vielen Regionen kaum noch zu finden. Die Betroffenen müssen Mietanteile, die die Obergrenze überschreiten, aus ihrem kargen Regelsatz abzweigen. Im Jahr 2020 waren das insgesamt 474 Millionen Euro, verteilt auf 450.000 Haushalte. Damit kamen auf jede dieser Familien rund 100 Euro Extrakosten.
Die Ampel-Fraktionen wollen nun prüfen, ob sie hier an den Hartz-IV-Coronaregeln festhalten werden. Doch die sind weitgehend eine Schimäre. Tatsächlich müssen Jobcenter nun auch teurere Mieten anerkennen, allerdings lediglich bei Neuantragstellern für zunächst sechs Monate. Die Sechsmonatsregel galt allerdings schon vorher in gewissem Rahmen. Denn Jobcenter schickten Neubeziehern in zu teuren Unterkünften zwar eine "Aufforderung zur Kostensenkung" durch einen Umzug, mussten aber trotzdem für ein halbes Jahr die volle Miete übernehmen. Erst dann kappten sie die Hilfe auf das Niveau der Obergrenze.
Eine wirkliche Verbesserung, zumindest für Neuantragsteller, könnte ein höheres Schonvermögen sein. Denn auch hier wollen SPD, FDP und Grüne prüfen, ob sie an den Corona-Sonderregeln festhalten. Als Schonvermögen gilt Erspartes, was nicht unmittelbar für den Lebensunterhalt eingesetzt wird. Bisher dürfen Hartz-IV-Bezieher 150 Euro pro Lebensjahr behalten. Das heißt: Ein 30-Jähriger darf 4.500 Euro auf der hohen Kante "bunkern", jeden darüber liegenden Cent muss er für den Lebensunterhalt einsetzen. Einer 50-Jährigen gesteht der Staat Rücklagen von bis zu 7.500 Euro zu.
Wer seit April 2020 allerdings coronabedingt Hartz IV neu beantragen musste, erhielt auch bei mehr Erspartem Unterstützung, solange es die Grenze von 60.000 Euro für die erste, 30.000 Euro für jede weitere Person im Haushalt, nicht überstieg. Selbstständigen gewährt der Staat derzeit zusätzlich 8.000 pro Arbeitsjahr für die Altersvorsorge. Bedingung ist hier, dass das Geld genau zu diesem Zweck angelegt ist.
Außerdem versprechen die Fraktionen, die Zuverdienstmöglichkeiten verbessern zu wollen. Das würde eine Neuauflage der Freibeträge bedeuten. Derzeit gehen viele Hartz-IV-Bezieher einer regulären Beschäftigung mit einem Verdienst unterhalb des Grundsicherungsanspruchs nach. So zählen von rund 3,7 Millionen erwerbsfähigen Beziehern ab dem 16. Lebensjahr aufwärts nur etwa 1,4 Millionen Menschen als arbeitslos. Der Rest ist entweder vorübergehend krank, über 58 Jahre alt oder arbeitet mindestens 15 Stunden pro Woche. Wer nun einen Job hat und aufstockt, darf die ersten 100 Euro vom Verdienst komplett behalten. Darüber liegendes Einkommen wird bis zu einer Obergrenze von 1.000 Euro zu 80 Prozent mit dem Regelsatz verrechnet, alles, was diese Grenze übersteigt, zu 90 Prozent.
Nun stehen hinter dem Wort "Verbesserung" keine Zahlen im Papier, sondern lediglich ein Versprechen, von dem man nicht weiß, wie es letztlich ausgelegt wird. Es gab in den letzten Jahren auch Vorschläge, etwa den Grundfreibetrag von 100 Euro abzuschaffen und dafür die Anrechnungsbeträge stärker zu verringern, je mehr jemand hinzuverdient. Der Grund: Man wollte die Anreize, mehr zu arbeiten, erhöhen. Dies würde sich für Minijobber nachteilig auswirken. Es gilt also abzuwarten, was dabei herauskommt.
Nur ein schönerer Name für Hartz IV?
"Bürgergeld bleibt Hartz IV, solange nicht die Sanktionen abgeschafft werden und eine menschenwürdige Existenzsicherung von mindestens 600 Euro eingeführt wird", kritisierte der Experte für Sozial- und Erwerbslosenrecht vom Verein Tacheles, Harald Thomé, am Montag in einer Presseerklärung zum Verhandlungsstand der drei Fraktionen. Er rückte die aktuellen Preissteigerungen in den Fokus. "Die Strom- und Heizkosten explodieren, das wird Grundsicherungs- und Niedriglohnhaushalte erheblich belasten", warnte er und fordert Soforthilfen von 50 Euro pro Monat für Hartz-IV-, Sozialhilfe- und Wohngeldbezieher.
Darüber hinaus müsse die neue Bundesregierung endlich ernsthaft der zunehmenden Verarmung größerer Bevölkerungsteile entgegenwirken. Thomé fordert beispielsweise realitätsnahe, höhere Mietobergrenzen und eine bundesweite echte Mietpreisbremse, um den Anstieg der Wohnkosten zu stoppen. Aktuell, so rügt er, reichten die Bemühungen kaum weiter, als "dem Kind einen anderen Namen zu geben".
Er verwies auch auf die Historie von Hartz IV. Dieses Modell, so Thomé, sei ein Teil der Agenda 2010, "die eine Vielzahl von Sozialkürzungen umfasst", stellte er klar und führte im Einzelnen beispielhaft auf: "Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem Niveau der Sozialhilfe, verkürzte Dauer des Arbeitslosengeld-Bezuges, Kürzung des Krankengeldes und zahlloser medizinischer Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung, Aufweichung des Kündigungsschutzes, Umlage von Kosten der Sozialversicherung auf die Beschäftigten." Weiter erklärt der Sozialrechtler:
"Hartz IV bedeutet Massenverarmung, Zwangsarbeit und Sanktionen bis zur Existenzvernichtung, Gängelei und Bevormundung langzeitarbeitsloser Menschen, Regelbedarfe, die seit 17 Jahren das Existenzminimum nicht decken und einen ständigen Verstoß gegen die Menschenwürde darstellen, aber auch Ausweitung der Leiharbeit, Minijobs, prekärer Beschäftigung und gezielte Schaffung eines riesigen Niedriglohnsektors."
Sanktionen und niedrige Leistungen als Mittel der Lohndrückerei
Im Hartz-IV-System gelten seit dessen Einführung am 1. Januar 2005 strenge Regeln. Fast jede Arbeit, die nicht ganz und gar sittenwidrig ist, gilt demnach als zumutbar. Bei der Einführung des Mindestlohns 2015 nahm man Hartz-IV-Bezieher gar als Gruppe zumindest für die ersten sechs Arbeitsmonate davon aus. Wer ein solches "Angebot" vom Jobcenter "ohne triftigen Grund" nicht annimmt, wird mit Kürzungen bestraft.
Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte kein Blatt vor den Mund genommen und es ganz offen gesagt: Das repressive System wurde gerade mit der Absicht eingeführt, den Niedriglohnsektor massiv auszuweiten, um die Konkurrenzfähigkeit Deutschland am globalen Markt zu sichern. Hartz IV sollte einerseits Beschäftigte in Angst vor dem Abstieg versetzen und so daran hindern, prekäre Jobs zu kündigen. Andererseits sollte es bereits Betroffene derart in ihrer Existenz bedrohen, dass sie schlechte Arbeitsbedingungen und Löhne notgedrungen akzeptieren.
Die Wissenschaftlichen Dienste stellten dem Hartz-IV-System bereits 2017 ein erschütterndes Negativzeugnis aus. So führten Studien zufolge insbesondere hohe Sanktionen zu psychischen Störungen, Schulden, Einsparungen bei notwendigen Medikamenten bis hin zu einer mangelhaften Ernährung und dem Verlust der Wohnung. Die erwünschten erzieherischen Wirkungen dieser Strafen blieben dagegen weitgehend aus. Zu einem Umdenken führte das bis heute nicht.
Es verwundert daher nicht: Wie aus einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom März 2021 hervorgeht, sind die Reallöhne, gemessen an den Lebenshaltungskosten, trotz zwischenzeitlicher Einführung des Mindestlohns seit langem nicht nennenswert gestiegen sind. Insbesondere Menschen mit niedrigen Einkommen außerhalb von Tarifverträgen dürften zunehmend an Geldnot leiden. Steigende Preise im Zuge der "Coronakrise" drücken derweil die Kaufkraft weiter. Die Pläne der in Koalitionsverhandlung stehenden Parteien zur Verbesserung der sozialen Lage werden erkennbar schon vor ihrem möglichen Inkrafttreten von der ökonomischen Realität ad absurdum geführt.
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