Das Sinus-Institut erforscht seit vier Jahrzehnten den Wertewandel und die Lebenswelten der Menschen in Deutschland. Die daraus gewonnenen Informationen und Daten fließen in ein Gesellschafts- und Zielgruppenmodell ein – die sogenannten Sinus-Milieus. Die erste Erstellung von Sinus-Milieus datiert von 2010. Nun hat das Institut, zu dessen Kunden unter anderem Unternehmen, Stiftungen und Ministerien gehören, sein Gesellschaftsmodell überarbeitet und sieht neue "Alltagswirklichkeiten", die durch "politische Umbrüche, Digitalisierung, populistische Bewegungen und klimatische Extremereignisse" geprägt seien.
In einer Pressemitteilung schreibt das Institut unter anderem vom "Ende der bürgerlichen Mitte, wie wir sie kannten". Da sich die Gesellschaft stetig fortentwickele, seien auch die sozialen Milieus ständig in Bewegung, so Sinus. Zum einen führe die wechselnde Konjunktur gesellschaftlich dominanter Werte zu Verschiebungen in der Milieulandschaft, zum anderen sei jede Jugendgeneration mit neuen Wertegemengen bzw. -hierarchien konfrontiert, woraus sich dann ganz neue Milieus bilden können.
Die Schlüsselbegriffe der Veränderungen sind laut dem Institut folgende:
"Klimawandel, Migration, Pluralisierung der Lebensformen, Wohlstandpolarisierung, Digitalisierung, Ästhetisierung des Alltags."
Diese "Megatrends" hätten in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu einer Veränderung des Milieupanoramas geführt. So fühle sich ein Teil der bürgerlichen Mitte infrage gestellt. Gegenüber der Welt sagte die Geschäftsführerin des Sinus-Instituts, Silke Borgstedt:
"Diese Menschen haben das Gefühl, dass sie als Normalbürger ersetzt und ihre Lebensentwürfe entwertet werden."
Und weiter:
"Nach dem Motto: Da guckt man jahrelang 'Traumschiff' – aber jetzt, wo man selbst in Richtung Ruhestand geht und häufiger mal eine Kreuzfahrt machen will, wird man dafür schief angeschaut."
Die Lebens- und Wertewelten drifteten auseinander. Der "statusoptimistische Teil modernisiert sich" und blicke nach oben. Der "harmonieorientierte, größere Teil" sehe seinen Lebensstil und seine Prinzipien gesellschaftlich entwertet und ziehe sich verbittert zurück. Der gesellschaftliche Zusammenhalt nehme ab, weil der Glaube an kontinuierliche Wohlstands- und Sicherheitsgewinne erodiere. Diese "bürgerliche Mitte" fühle sich oft nicht mehr in ihren Bedürfnissen gesehen.
"Auch deshalb, weil viele Debatten komplett an ihrer Lebenswirklichkeit vorbeigeführt werden", so Borgstedt.
Die "bürgerliche Mitte" ziehe sich in eine Nische zurück (siehe dazu weiter unten "Nostalgisch-bürgerliches Milieu") und werde durch ein Milieu abgelöst, das Sinus als "adaptiv-pragmatische Mitte" bezeichnet. Sinus charakterisiert dieses Milieu wie folgt:
"Der moderne Mainstream: Anpassungs- und Leistungsbereitschaft, Nützlichkeitsdenken, aber auch Wunsch nach Spaß und Unterhaltung; starkes Bedürfnis nach Verankerung und Zugehörigkeit; wachsende Unzufriedenheit und Verunsicherung aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung; Selbstbild als flexible Pragmatiker."
Zudem gibt es Sinus zufolge nun drei neue Milieus:
Das "Postmaterielle Milieu", laut Sinus eine "engagiert-souveräne Bildungselite mit postmateriellen Wurzeln". Es gehe bei dieser Gruppe um "Selbstbestimmung und -entfaltung sowie auch Gemeinwohlorientierung". Zudem sei das "Postmaterielle Milieu" ein "Verfechter von Post-Wachstum, Nachhaltigkeit, diskriminierungsfreien Verhältnissen und Diversität". Man sehe sich "als gesellschaftliches Korrektiv".
Es handele sich bei dieser einflussreichen Gruppe laut Borgstedt um eine "engagierte Bildungselite, die sich fürs Gemeinwohl einsetzt und einen öko-liberalen Großstadt-Lifestyle pflegt". Doch, so Borgstedt in der Welt:
"Die sagen zwar gerne 'Weniger ist mehr', sind aber gut ausgestattet und leben eher in Kompensationslogiken."
Und sie ergänzt:
"Man gönnt sich weiter Flüge und verzichtet dafür auf Fleisch."
Das zweite neue Milieu sei das "Neo-Ökologische Milieu". Hier handele es sich dem Institut zufolge um "die Treiber der globalen Transformation: Optimismus und Aufbruchsmentalität bei gleichzeitig ausgeprägtem Problembewusstsein für die planetaren Herausforderungen". Man sei "offen für neue Wertesynthesen: Disruption und Pragmatismus, Erfolg und Nachhaltigkeit, Party und Protest". Das Selbstbild sei das eines "progressiven Realisten, gekennzeichnet von einem Umwelt- und klimasensiblen Lebensstil".
Borgstedt zufolge ist dieses Milieu der "Treiber der globalen Transformation". Es handele sich um junge Leute aus der Mittelschicht, die nachhaltig lebten, soweit sie es sich leisten können – und in die Politik gingen, um dort die großen Probleme der Zeit anzupacken: Klimakrise, Flucht, die Kluft zwischen Arm und Reich. Laut Borgstedt will diese Gruppe "das System von innen verändern".
Bei dem dritten neuen Milieu handele es sich um das "Nostalgisch-bürgerliche Milieu". Dieses Milieu kennzeichnet Sinus als "harmonieorientierte (untere) Mitte". Es gebe hier einen "Wunsch nach gesicherten Verhältnissen und einem angemessenen Status". Man nehme sich als Mitte der Gesellschaft wahr, leide aber an "wachsender Überforderung und Abstiegsängsten". Es gebe einen "gefühlten Verlust gelernter Regeln und Gewissheiten". Charakteristisch sei eine "Sehnsucht nach alten Zeiten".
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