von Tilo Gräser
Die Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel habe "verheerend gewirkt", weil sie die Stabilität zivilisierter westlicher Staaten durch ihre geschriebenen Verfassungen zerstört habe. Das sei durch die "Entkernung der deutschen Verfassung" geschehen. Das stellt der Augsburger Germanist und Philosoph Peter J. Brenner in einem Beitrag für die Schweizer Zeitung Die Weltwoche fest.
Brenner, der in Köln, München, Chapel Hill (USA) und Innsbruck gelehrt hat, setzt sich zum einen mit den Folgen von 16 Jahren Kanzlerschaft Merkels und zum anderen mit dem letzten Bundestagswahlkampf auseinander. Seine Analyse widerspricht deutlich dem, was die etablierten bundesdeutschen Medien zu beiden Themen veröffentlichen.
Für Brenner ist das Unwichtigste an der Wahl das Ergebnis, das für eine Politik des "Weiter so" stehe. Interessanter findet der Germanist den Wahlkampf: "Er eröffnete nicht nur Einsichten in die Mechanismen der Macht unter der Oberfläche des medialen Geschehens, sondern mehr noch Einblick in das Grundverständnis des Politischen in Deutschland."
Sicherheit statt Freiheit
Brenner erwähnt, dass Medien und politische Beobachter im In- und Ausland Merkel gern als "gute Kanzlerin", als "guten Menschen" oder die "Führerin der freien Welt" sehen und darstellen. Das habe international seine Grundlage in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik. Im Inneren habe Merkel die Bundesbürger mit dem Versprechen auf Stabilität überzeugt.
Die Nachfolgerin von Helmut Kohl habe gewusst und genutzt, dass die Deutschen "bei der Wahl zwischen Freiheit und Sicherheit immer die Sicherheit vorziehen würden". Brenner fügt hinzu: "Sie sind auch bereit, ihre Freiheit dem bloßen Schein der Sicherheit zu opfern." Und:
"Im Laufe bleierner Jahre der Gewöhnung konnte in Vergessenheit geraten, dass diese Stabilität ein Potemkinsches Dorf war, eine brüchige Fassade, die mit der unablässigen Verausgabung von Geldern in alle Himmelsrichtungen oder durch schlichtes Ignorieren von selbst erzeugten Krisensituationen aufrechterhalten wurde."
Der Germanist aus Augsburg wirft Merkel vor, die bundesdeutsche Verfassung, das Grundgesetz, entkernt und damit die Stabilität der Gesellschaft zerstört zu haben. Sie sei nicht nur einem imaginären übergeordneten "EU-Recht" geopfert worden. Die Verfassung sei "mehr noch den Wellenbewegungen des Zeitgeistes und oft genug einfach nur tagespolitischer Opportunität" unterworfen worden.
Herrschaft ohne Charisma
Für den Augsburger Philosophen ist Merkels Kanzlerschaft das Beispiel "einer eigenartigen Version der 'charismatischen Herrschaft'", wie sie der Soziologe Max Weber einst beschrieb: "die apokalyptische Zuspitzung politischen Handelns auf 'Alles oder nichts' – oder 'Alternativlosigkeits'-Konstellationen" und zugleich "charismatische Herrschaft ohne Charisma".
Merkel werde oft ihre offen zur Schau gestellte Unauffälligkeit und ihr Mangel an Eitelkeit zugute gehalten, schreibt Brenner und zieht einen historischen Vergleich: Das seien Eigenschaften, die ebenso den einstigen DDR- und SED-Führungskadern Walter Ulbricht, Willi Stoph und Erich Honecker zugeschrieben würden, "deren Erscheinungsbild auch nicht gerade glamourös war". Honecker-Nachfolger Egon Krenz stellte übrigens 2016 passend fest:
"Wenn ich Angela Merkel sehe und höre, denke ich: Ein Stückchen DDR steckt eben immer noch in ihr."
Für Germanist Brenner ist klar: Diese Herrschaftstechnik "ohne Charisma" funktioniert. "Sie funktioniert dort, wo es um die Sicherung der Macht geht; weniger gut funktioniert sie dort, wo es um die Bewältigung des politischen Alltags oder gar um die Meisterung von Krisensituationen geht." Damit habe Merkel die Bundesrepublik grundlegend verändert, mit der Folge: "Politisch, kulturell, intellektuell, sozial, ökonomisch stellt sie sich als eine Trümmerlandschaft dar".
Der letzte Bundestagswahlkampf habe "den personellen Notstand und die geistige Ödnis der Ära Merkel sichtbar werden lassen". Wählern und Spitzenkandidaten schien offensichtlich nicht klar gewesen zu sein, worum es im Wahlkampf ging, so Brenner. Das zeigte sich für ihn zum einen an der Episode mit dem lachenden CDU-Kandidaten Armin Laschet im Hochwassergebiet. Zum anderen sei das durch die abschreibende Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock deutlich geworden.
Werbung statt Wahlkampf
Daran hätten die meinungsmachenden Medien ihren Anteil, die die beiden Episoden zu "Großereignissen" hochstilisiert hätten. Brenner erinnert im Fall Laschet daran, dass "Lachen einfach nur ein Zeichen hilfloser Überforderung" sein kann. Im Fall Baerbock sei klar, dass diese grüne Kandidatin mit dem Versuch, ein eigenes Buch zu schreiben, sich "schlicht übernommen" hat.
"Aber diese beiden Episoden haben maßgeblich dazu beigetragen, dass keiner der beiden Kandidaten die vorhergesagte Wählerzustimmung gefunden hat", stellt der Autor fest. Dagegen hätten die politischen Angriffsflächen, die SPD-Kandidat Olaf Scholz bot, im Wahlkampf keine Rolle gespielt, auch medial nicht.
"Der Wahlsieger SPD hatte schlicht die bessere Werbeagentur und das professionellere Personal in der Parteizentrale, die ihrem Kandidaten erfolgreich klarmachen konnten, einfach gar nichts zu tun und damit auch keine Anhaltspunkte für einen Überforderungsverdacht zu geben."
Bei alldem haben laut Brenner die Medien aktiv mitgespielt. Der Grund aus seiner Sicht: "Politik und Medien sind zu einem unentwirrbaren Konglomerat verschmolzen, bei dem sich die Beteiligten gegenseitig in die Hände arbeiten." Es sei ihnen gelungen, "Scheinprobleme in den Vordergrund zu spielen und die tatsächlichen Probleme dieses Landes aus dem Blickfeld zu verdrängen". Dafür bringt der Germanist eine Reihe von Beispielen.
"Molluskenartiges System"
Über das, was die Bundesbürger tatsächlich bewegt und sich zum Beispiel in der Umfrage "Die Ängste der Deutschen 2021" der R+V-Versicherung zeigt, sei nicht geredet worden. Das gilt laut Brenner für die Aussage, dass es mehr Angst vor der Migration als vor der Klimakrise gebe. Ebenso sei nicht "über die düstere Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, über den Zerfall des Bildungssystems, über langsam verrottende Infrastrukturen und auch nicht über eine orientierungslose Außenpolitik" geredet worden.
Davon künde auch das Wahlergebnis, bei dem es nicht zu einem erwarteten Höhenflug der Partei Bündnis 90/Die Grünen kam – während viele Erstwähler die FDP ankreuzten. Brenner unterstellt der "journalistischen Blindheit gegenüber den großen Problemen dieser Republik" keine Absicht. "Sie sieht eher nach Notwehr aus, derer sich Journalisten bedienen, die von ihrem Beruf überfordert sind."
Für den Germanisten besteht "kein Anlass, die alte Bundesrepublik zu glorifizieren". Schon in den 1970er Jahren seien die Verfallssymptome der Demokratie beobachtet worden. Doch das Problem habe sich verschoben und zugespitzt:
"An die Stelle konkurrierender Parteien und Verbände ist ein molluskenartiges System der Politik getreten, das weit über seinen eigentlichen Bereich hinaus- und, vor allem durch die offene oder versteckte staatliche Alimentierung zivilgesellschaftlicher und medialer Akteure, in die Gesellschaft hineingreift und damit einen umfassenden Primat der Politik installiert."
Freiheit ohne Interesse
Politik sei ein gesellschaftliches System, schreibt Brenner, während es um politisches Handeln gehe, das sich an der Freiheit als wichtigstem Wert orientiere. Doch davon habe sich die bundesdeutsche Demokratie wie das westliche Demokratiemodell an sich "weit entfernt": "Nirgends wurde das deutlicher als in der Corona-Krise."
Das hatte er zuvor in einem Beitrag für den Blog des von ihm gegründeten Instituts für Medienevaluation, Schulentwicklung und Wissenschaftsberatung (IMSW) konkret beschrieben:
"Die Rechtswissenschaftler Jens Kersten und Stephan Rixen haben eine Liste der grundgesetzlichen Freiheitsrechte erstellt, welche durch die infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen betroffen sind: Art. 2,1; Art 3, 1; Art 4, 1 u. 2; Art 5, 3; Art 7,1; Art. 12,1; Art. 8,1; Art, 91; Art 11,1; Art. 13,1; Art. 14,1; Art. 16,1. Das hat noch keine vorherige Bundesregierung zustande gebracht, aber auf großes Interesse stößt das in der Öffentlichkeit nicht."
Das sieht auch der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes Hans-Jürgen Papier so und warnt vor den Folgen. Er erklärte in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt im März dieses Jahres mit Blick auf die Corona-Politik:
"In der Bewusstseinslage der politischen Akteure und bei Teilen der Bevölkerung scheint gelegentlich in Vergessenheit zu geraten, dass die Menschen dieses Landes freie Bürger sind. Sie verfügen über unveräußerliche und unentziehbare Freiheitsrechte, sie sind keine Untertanen!"
Für Philosoph Brenner sollte Politik mehr sein "als ein Buhlen um die Gunst der Wähler mit vollmundigen Versprechen – die am Ende die Wähler ohnehin selbst bezahlen müssen –, damit diese ihre Kandidaten zumindest für vier Jahre mit einem Mandat, besser noch mit einem Dienstwagen und einem Ministertitel versorgen". Das Problem sieht er darin, dass die Politik in der Bundesrepublik keinen Begriff, kein Verständnis mehr vom Politischen hat. Das sei die "Epochenschwelle" der Ära Merkel, "in der das Politische zugunsten der Politik abgedankt hat".
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