Die Bundestagswahl 2021 war ungewöhnlich, aber nicht wirklich dort, wo man es auf den ersten Blick vermuten würde: beim Stimmanteil von CDU/CSU und SPD. Denn die Tendenz, dass die beiden einst übermächtigen Parteien, die auf Werte um die 40 Prozent hoffen konnten, schrumpfen, hat nicht erst mit dieser Wahl begonnen.
Der Anteil der Nichtwähler ist sogar leicht zurückgegangen, von 23,8 auf 23,4 Prozent. Und dennoch zeigt sich an mehreren Punkten, dass das bestehende Parteiensystem für einen guten Teil der Wähler keine Antworten auf ihre Fragen mehr bietet.
Denn der Anteil der sonstigen Parteien lag bei 8,7 Prozent; höher hatte er zuletzt 2013 gelegen, damals waren von den elf Prozent allerdings 4,7 Prozent auf die AfD entfallen, die damals den Einzug in den Bundestag knapp verfehlt hatte. Insgesamt fühlten sich also diesmal 32,1 Prozent der Wahlberechtigten von keiner der parlamentarischen Parteien vertreten. Ein Ergebnis, das den Aufstieg einer neuen Partei ankündigen kann.
Dabei haben nach Wählerwanderungsanalysen alle Parteien mit Ausnahme von SPD und Grünen an die Nichtwähler abgegeben; einzig die Grünen haben aus allen Wählerschaften einschließlich der Sonstigen und der Nichtwähler Stimmen ziehen können. Die Linke hingegen hat an alle anderen abgegeben und ihr Ergebnis im Vergleich zur letzten Bundestagswahl absolut wie relativ beinahe halbiert.
Auffällig ist, dass es keinerlei "Wechselbonus" bei der Wahlbeteiligung gab. 2005, bei der Bundestagswahl, die Merkel an die Regierung gebracht hatte, war dies zwar auch nicht der Fall gewesen, aber dieses Ergebnis war damals knapp und überraschend. Bei den beiden Bundestagswahlen, die bereits im Vorhinein als mögliche politische Wende festgestanden hatten, 1972 und 1983, war die Wahlbeteiligung im Vergleich zur vorhergehenden Wahl deutlich gestiegen. Die Tatsache, dass Merkel nicht mehr antrat, führte nicht zu einer deutlichen Erhöhung der Wahlbeteiligung, was darauf schließen lässt, dass die Erwartung wirklicher Veränderungen nicht besteht.
Wahlenthaltung ist übrigens sozial relativ klar verortet. Es sind vor allem Beschäftigte im Dienstleistungssektor und in der Produktion, die nicht wählen. Bei beiden Gruppen reicht der Anteil der Nichtwähler an die 40 Prozent. Das dürfte durchaus damit zu tun haben, dass ihre Interessen so gut wie keine Chance haben, sich politisch durchzusetzen. Wobei dieser Anteil der Wahlenthaltung noch täuscht – gerade in diesen beiden Bereichen ist der Anteil der Beschäftigten, die keine Wahlberechtigung besitzen, weil sie keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, überproportional hoch. Dadurch werden die Interessen der ärmeren Teile der Bevölkerung noch schlechter abgebildet, als es durch die soziale Zusammensetzung der Abgeordneten und die effektive Lobbyarbeit der Bestverdienenden ohnehin schon der Fall ist.
Die Wahlentscheidung wurde nur zu Teilen tatsächlich thematisch motiviert. Dabei gibt es nach Erkenntnissen der Forschungsgruppe Wahlen eine seltsame Art der Bewusstseinsspaltung – auf die Frage, was das wichtigste Problem sei, antworten die meisten konform mit "Klimawandel", als wichtigstes Thema für die eigene Wahlentscheidung antworteten aber 53 Prozent mit "soziale Gerechtigkeit".
Gerade dieses Thema hätte bei einer möglichen Jamaika-Koalition die schlechtesten Karten. Nur für 21 Prozent der Unions-Wähler war soziale Sicherheit ein wichtiges Thema; das ist immer noch mehr als bei der FDP mit 19 Prozent oder gar den Grünen mit zehn Prozent. Für die Wähler der SPD wie der Linken ist dies hingegen das mit Abstand das wichtigste Thema. In einer Ampelkoalition wäre also ein großer Konflikt schon vorprogrammiert.
Die FDP dürfte von zwei Themen profitiert haben, die nicht abgefragt wurden, aber dennoch sehr präsent waren. Das erste ist die Corona-Politik, bezüglich derer die FDP neben der AfD die einzige Partei war, in der zumindest Einzelne noch Bedenken äußerten, und das zweite ist die Haltung zum Auto. Das weist wiederum auf einen möglichen Bruchpunkt in einer Jamaika-Koalition hin.
Horst Kahrs, der für die Rosa-Luxemburg-Stiftung schon lange mit die schnellste Wahlanalyse liefert, benennt eine ganze Reihe von Themen, die "eher in die Rolle des Elefanten im Raum" verbannt wurden. Dazu zählen Flucht und Migration, die Zukunft der Alterssicherung, Europa und die EU sowie die deutsche Außenpolitik. Allerdings könnte schon ein kalter Winter ausreichen, die vermeintliche Einigkeit bei der "Energiewende" auf den Prüfstand zu stellen, und das Thema Corona-Politik muss auch zu den Elefanten gezählt werden, selbst wenn hier augenblicklich eine Super-Koalition besteht.
Die SPD hat zwar erfolgreich auf eine Wiederbelebung des Helmut-Schmidt-Effekts gesetzt und durch einen Kandidaten vom rechten Rand der Partei genug Stimmen von den Unionsparteien abgezogen (nach Infratest dimap 1,36 Millionen), um sich das beste Ergebnis zu sichern; 26 Prozent ihrer Wähler haben sie nur wegen des Spitzenkandidaten gewählt. Aber das sagt nach dieser Wahl noch nichts über eine künftige Koalition oder gar über die von dieser zu erwartende Politik aus. Von langwierigen Verhandlungen vor einer Regierungsbildung ist auszugehen.
77 Prozent der Wähler (laut Infratest dimap) sind der Überzeugung, der Wohlstand in Deutschland sei nicht gerecht verteilt; 40 Prozent wünschen sich einen grundlegenden Wandel, allerdings in höchst unterschiedliche Richtung, und 32 Prozent sind durch die gewählten Parteien überhaupt nicht vertreten. Das kann eine Entwicklung andeuten, bei der die Politik außerhalb des Parlaments wieder an Bedeutung gewinnt.
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