Laut Dr. Ulrich Brückner, Jean-Monnet-Professor für European Studies am Stanford Overseas Studies Center an der Freien Universität Berlin, ist es nur schwer vorstellbar, dass die CDU einfach so weitermachen könne. Sein Gefühl sei, dass ein Kanzlerkandidat der Union mit so schlechten Popularitätswerten und einem so schlechten Ergebnis seiner Partei die richtigen Schlüsse daraus ziehen müsse – und das bedeute eben nicht, um das Kanzleramt zu kämpfen.
Konsequenzen bei der CDU müsse es unbedingt geben, so Brückner. Auch das sei eine der Konsequenzen von 16 Jahren Merkel, die zwar sehr souverän an der Spitze agiert hätte, aber nicht wirklich Platz für potentielle Nachfolger ließ. Merkel habe sich schwer getan, jemanden für die Parteinachfolge zu finden. Mit Annegret Kramp-Karrenbauer sei es schiefgegangen, und auch bei der Kür der drei Kandidaten für die Kanzlerschaft sei nicht alles reibungslos gegangen. Und der Kandidat, den die CDU dann kürte, habe einen Formfehler nach dem anderen gemacht. Die CDU erscheine nicht wirklich regierungsfähig, so Brückner weiter.
Für die SPD sei der Wahlabend ein völlig unerwarteter großer Erfolg, wenn man sich anschaue, dass die Partei zeitweilig bei 15 Prozent lag. Aber gemessen an den Ansprüchen einer Volkspartei, die auch schon einmal über 40 Prozent gelegen habe, spiegele das Ergebnis der SPD das wider, was eine vielfältig ausdifferenzierte Gesellschaft heutzutage tue – man finde sich nicht immer in einer Partei zuhause, sondern "shoppe verschiedene Positionen" und sei auch bereit, relativ kurzfristig zu wechseln. Darunter würden die Volksparteien leiden.
"Merkel ist auf Sicht gefahren"
Dem Politanalysten zufolge werden FDP und Grüne ein starkes Wörtchen dabei mitreden, wenn es darum gehe, ob Scholz oder Laschet ins Kanzleramt einziehen dürfen. Für die beiden Parteien gehe es auch um wichtige Positionen in einem zukünftigen Kabinett. Gerade das Finanzministerium werde wichtig, da auf europäischer Ebene große Diskussionen zu führen seien, wie man die europäische Fiskalunion und die EU selbst reformieren könne. Da komme dem Finanzministerium ein großes Gewicht zu. Auch Außen- und Sicherheitspolitik seien wichtig. Doch es bleibe vorerst offen, wer aus welcher Partei mit welchem politischen Gewicht in den Parteien diese Positionen einnehmen werde.
Eine Neuauflage der Großen Koalition sei zwar rein rechnerisch möglich, aber politisch gesehen hätten weder Laschet noch Scholz angekündigt, dass sie für etwas Vergleichbares zur Verfügung stehen. Laut Brückner "würde sich die CDU damit auch keinen Gefallen tun". Auch würde das, dem Analysten zufolge, nicht wirklich den Wählerwillen ausdrücken. 59 Prozent der Deutschen sagten: "Wir wollen Wandel" – dabei gehe es nicht nur um das Personal, sondern es sei Zeit für eine andere Regierungskonstellation, die sich den Themen widme, die von der bisherigen Großen Koalition nicht genug angegangen worden wären.
Ihm persönlich sei – was die zukünftige Regierungskoalition betrifft – die Farbe vergleichsweise egal. Wichtig sei vielmehr, dass man Reformen nicht aufschiebe, wie das eine Kanzlerin, die auf Sicht gefahren und auch stolz darauf gewesen sei, nicht getan hätte. Merkel hätte eben nicht visionär geführt, sondern habe immer nur das Mögliche abgeprüft, wozu die Öffentlichkeit gerade bereit gewesen sei, um dann so weit zu gehen, wie es gerade möglich gewesen sei – mit dem Erfolg, viermal hintereinander die Wahl gewonnen zu haben. Man müsse nun die Klimafrage angehen und sich außenpolitisch positionieren, auch die Finanzen müssten in Ordnung gebracht werden. Und dadurch, dass man nun wahrscheinlich einen sozialdemokratischen Kanzler haben werde, gebe es auch viel zu tun, wie man den Wohlfahrtsstaat reformieren kann – Stichwort Renten, Stichwort Mindestlohn –, was Scholz ein besonderes Anliegen sei. Da müsse eine zukünftige Koalition liefern.
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