von Tilo Gräser
Die etablierten Parteien lassen im aktuellen Bundestagswahlkampf wichtige ökonomische und soziale Fragen "ganz außen vor oder bieten 'Lösungen', die bestenfalls an der Oberfläche der Probleme kratzen". Zu diesem Urteil über die Wahlprogramme kommt die Redaktion des wirtschaftspolitischen Magazins Makroskop im aktuellen Heft. Deshalb gebe es eine Repräsentationslücke im bundesdeutschen Parteiensystem, heißt es im Vorwort.
Um diese Lücke zu schließen, hat die Makroskop-Mannschaft sich mit den Mitgliedern der "Freiburger Diskurse" zusammengetan. Dieser Verein wurde nach eigener Aussage mit dem "Ziel gegründet, eine fundierte Meinungsbildung zu ökonomischen Fragen zu ermöglichen". Aus der Zusammenarbeit ist ein besonderes Wahlprogramm unter dem Titel: "Wahlprogramm sucht Partei" entstanden.
Dazu heißt es im Makroskop-Heft: "Anders als die Programme der Parteien wurde es nicht durch unzählige Programmkommissionen geschleift, nicht jeder Satz von Spin-Doktoren auf seine PR-Tauglichkeit geprüft oder eine ungeschönte Gegenwartsdiagnostik durch den Reißwolf gezogen." Herausgekommen sind elf Punkte, die weit über wirtschaftliche Fragen hinausgehen.
Unbemerkte Umbruchsituation?
Im Programm, das der aktuellen Makroskop-Ausgabe beiliegt, erklären die Autoren, warum sie keine eigene Partei gründen:
"Weil die Erfolgsaussichten einer solchen Partei eher schlecht wären. Denn für eine neue Partei mit neuen Schwerpunkten bedürfte es einer echten Umbruchsituation."
Die gibt es vielleicht derzeit, meinen die Autoren. Sie werde aber von den Menschen nicht begriffen. "Begreifen zeigt sich im Handeln, nicht im Reden." Deshalb werde mit dem Programm versucht, "den Wähler für vernünftige politische Ideen" zu gewinnen. Diese nehme der Parteienbetrieb erst auf, "wenn das Publikum ihn damit konfrontiert".
Der erste Punkt im Wahlprogramm einer nicht existenten Partei spricht sich für "eine zeitgemäße Staatsfinanzierung" aus. "Sparen um der schwarzen Null willen ist deshalb gefährlicher Unfug, schadet es doch unserem Land, wie die bröckelnde Infrastruktur eindrücklich unter Beweis stellt", wird den bisher regierenden Parteien attestiert. "Nicht Geld auf Staatskonten, sondern eine funktionsfähige Wirtschaft und öffentliche Infrastruktur sind entscheidend – für die Gegenwart und erst recht für die Zukunft."
"Schuldenbremse" soll weg
Nachfolgende Generationen würden nicht durch hohe Staatsschulden belastet, wird im Programm klargestellt. "Der Staat kann sich immer über seine Zentralbank Geld beschaffen. Nachfolgende Generationen werden durch schlechte Ausbildung, mangelhafte Infrastruktur und eine zerstörte Umwelt belastet."
Und so wird im Programm ohne Partei gefordert, die "Schuldenbremse" aus Bundes- und Landesverfassungen zu streichen. "Stattdessen wird in das Grundgesetz aufgenommen, dass die Regierung in ihrem Handeln mit gleichem Nachdruck die vier Ziele niedrige Inflation, geringe Arbeitslosigkeit, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum zu verfolgen hat."
Der zweite Punkt hat eine drastische Überschrift: "Der Teufel scheißt immer auf den dicksten Haufen." Dieses Prinzip soll unterbrochen werden, indem die Finanzierung der Kommunen neu geregelt wird.
"Kommunen mit hohen Schulden sind selten Opfer ausgabewütiger Lokalpolitiker, sondern eher fehlender Struktur- und Regionalpolitik des Bundes. Und allzu oft drücken Bund und Länder den Gemeinden Aufgaben aufs Auge, ohne den Scheck mitzugeben."
Es geht den Programmautoren darum, "überall in Deutschland gleichwertige Lebensverhältnisse" schaffen zu können. Für dieses Ziel sollen die Schulden der Gemeinden durch den Bund so reduziert werden, "dass alle Gemeinden die gleiche Verschuldung pro Einwohner haben". Und: "Wer bestellt, bezahlt! In Zukunft gilt konsequent das Prinzip der Gesetzeskausalität, das heißt, wer Aufgaben für die Gemeinden festlegt, ist auch für die Finanzierung verantwortlich." Zugleich soll die Autonomie der Städte und Gemeinden ebenso wie ihre kommunale Aufsicht gestärkt werden.
Bund soll Kommunen stärken
Räume und Orte, in denen Menschen gern und gut wohnen und leben können, werden im dritten Punkt des Wahlprogramms ohne Partei gefordert. Immer neue Bauprogramme mit Geld für Investoren schüfen nicht in ausreichendem Maß Wohnungen. Wenn aktuell 600.000 Wohnungen fehlen und zugleich zwei Millionen Wohnungen leer stehen, reiche es nicht aus, auf die "unsichtbare Hand des Marktes" zu setzen, heißt es.
Deshalb wird im Programm gefordert, dass in Ballungszentren nur noch von den Kommunen oder gemeinnützigen Trägern gebaut werden darf. Das soll unter anderem durch den Bund finanziert werden. Und: "Hochschulen, andere Bildungseinrichtungen, Ämter und Behörden werden konsequenter über die Republik verteilt und gerade auch in schwachen Regionen angesiedelt." In diesen sollen sich auch Unternehmen durch gezielte Förderung niederlassen.
Gute Löhne sorgen für eine stabile Marktwirtschaft, wird im vierten Programmpunkt erklärt. "Der zentrale Konflikt einer kapitalistischen Ordnung ist auch heute noch der zwischen Arbeit und Kapital: Unternehmen wollen maximale Gewinne machen, und jedes einzelne Unternehmen wird deswegen immer bemüht sein, den wichtigsten Kostenfaktor, nämlich die Löhne, niedrig zu halten."
Gesetzliche Rente für alle
Deshalb wird vorgeschlagen, durch politische Maßnahmen zu verhindern, dass die Einkommen weiter auseinanderdriften:
"Der Staat ist der wichtigste Arbeitgeber in Deutschland. Er muss seine Verantwortung wahrnehmen und zu einer Anhebung des allgemeinen Lohnniveaus beitragen."
Die Hartz-IV-Gesetzgebung wird wieder abgeschafft und das vorherige Arbeitslosenversicherungssystem wieder eingeführt. Das kündigt das Programm, dem noch die passende Partei fehlt, neben weiteren Schritten in dem Bereich an.
In Punkt 5 wird gefordert, die gesetzliche Rente zu stärken, die "ein Grundstein unseres Sozialstaates" sei. Die staatliche Förderung kapitalgedeckter Zusatzversicherungen wie der sogenannten Riester-Rente soll wieder gestrichen werden. Nach und nach werden laut dem Programm alle Bevölkerungsschichten in das gesetzliche Rentensystem einbezogen, auch die Beamten. Eine Grundrente soll helfen, Altersarmut zu verhindern.
Das Wahlprogramm ohne Partei spricht sich im sechsten Punkt "für gute öffentliche Güter und adäquat bezahltes öffentliches Personal" aus. "Die Freiheit, die wir alle gerne wollen, gibt es für die meisten von uns nur, weil wir den im Artikel 20 des Grundgesetzes verankerten sozialen Rechtsstaat haben, der soziale Risiken absichert", wird dabei erinnert. Gegen die wiederkehrenden Krisen des Kapitalismus sei "ein großer öffentlicher Sektor" ein Puffer. Das schließt die Bildung ebenso wie das Gesundheitswesen ein.
Wider die Jagd auf Exportweltrekorde
Punkt 7 will der Bundesrepublik den "Exportismus" austreiben: "Für einen nachhaltigen und gerechten Wohlstand müssen wir so viele Waren ins Land holen, wie wir ausführen. Ausgerechnet China kann ein Vorbild sein." Dafür soll langfristig angestrebt werden, die Leistungsbilanz zwischen Importen und Exporten wieder auszugleichen.
Die Programmautoren wollen den Binnenmarkt wieder stärken und eine Industriepolitik durchsetzen, die inländische Innovationen fördert. So sei wieder der einst von Ludwig Erhard versprochene "Wohlstand für alle" möglich. Dazu soll auch die im achten Punkt vorgeschlagene Kreislaufwirtschaft beitragen. Damit sollen die Prinzipien der Wiedernutzung, des Recyclings und der Reparatur gefördert werden. Schädliche Wirkungen auf Mensch und Umwelt sollen mit Abgaben belegt werden.
Punkt 9 des Programms fordert "mehr Tempo bei der Agrarwende und der Bekämpfung von Artenschwund, Klimawandel und Übergewicht". Das soll durch einen Systemwechsel in der Agrarpolitik möglich werden, mit der auch kleine und mittlere Betriebe statt großer Agrarkonzerne gefördert würden.
Der Finanzsektor muss wieder der Realwirtschaft dienen, heißt es im zehnten Programmpunkt. Deshalb soll der Staat wieder die Kontrolle über das Geldsystem übernehmen. "Ein wichtiges Mittel ist die Einführung eines digitalen Euros für jeden und eine damit einhergehende stärkere Trennung des Investmentbankings vom übrigen Bankengeschäft." Der Punkt dürfte auch in kritischen Kreisen für Diskussionen sorgen. Zugleich sollen digitale Zahlungsmittel privater Firmen wie Facebook "entweder nicht zugelassen oder verboten" werden.
Notwendige Vorschläge statt Traumtänzerei
Am Schluss des Wahlprogramms, das eine Partei sucht, geht es um die Idee "Europa". Diese steht den Autoren zufolge "für Frieden und Freiheit, für 'Wohlstand für alle' (Ludwig Erhard), für Zusammenhalt, für Demokratie und Gerechtigkeit". Doch die Realität der Europäischen Union (EU) ist eine andere.
Die Programmautoren reagieren in ihrem letzten Punkt darauf nicht mit Forderungen, sondern mit Vorschlägen zum Nachdenken. Diese reichen von europäischen Institutionen für die Lohnkoordination und die dafür notwendige Aufgabe nationaler Selbstbestimmung bis hin zur Frage, ob der Euro besser abgeschafft werden sollte. Ein System flexibler Wechselkurse könne besser auf unterschiedliche Inflationsraten reagieren, wird das begründet.
Jene, die dieses Programm verfassten, haben allem Anschein nach wenige Illusionen darüber, was politisch möglich ist. Aber sie betonen, die von ihnen ausgewählten Maßnahmen seien notwendig, "wenn unsere Gesellschaft zukunftsfähig werden soll und wir die Erde für uns als lebenswert erhalten wollen". Alle Vorschläge seien machbar:
"Traumtänzer sind die, die glauben, dass alles so bleiben kann, wie es ist."
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