Die Grünen und ihre Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock planen eine umfangreiche Umgestaltung des Apparates der Bundesregierung. Erst gestern wurde bekannt, dass die Grünen ein neues Klimaschutzministerium mit einem Vetorecht gegenüber anderen Bundesministerien planen. Damit solle aus ihrer Sicht verhindert werden, dass die anderen Ressorts Vorschläge erarbeiten, die mit dem Klimaschutz kollidieren.
Bereits am Montag wurde ein Interview veröffentlicht, das Baerbock der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD) gegeben hat. In diesem fordert sie weitere einschneidende Änderungen: Die gesamte Einwanderungspolitik soll aus dem Ressort des Bundesinnenministeriums entfernt werden. Stattdessen solle es ein "gebündeltes Ministerium" für die Belange der "Vielfaltspolitik" und "Teilhabepolitik" geben. Baerbock argumentiert:
"Der ordnungspolitische Fokus auf Einwanderungspolitik in den letzten Jahrzehnten ist endlich durch eine teilhabeorientierte Perspektive zu ersetzen. Dafür muss Einwanderungspolitik nicht zuletzt aus dem Innenministerium herausgelöst werden und eben die Vielfaltspolitik, die Teilhabepolitik in den Mittelpunkt eines gebündelten Ministeriums gestellt werden."
Anlässlich des 60. Jahrestages des sogenannten Anwerbeabkommens der Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei hat die TGD in Zusammenarbeit mit der Stiftung Zentrum für Türkeistudien (ZfTI) eine Interviewreihe gestartet, um die Spitzenkandidaten bzw. führende Persönlichkeiten von Union, Grüne, SPD, FDP und Die Linke zu ihrer Position hinsichtlich der Migrationspolitik – insbesondere der türkischen Gemeinde – zu befragen. Den Start machte Baerbock.
Die Grünen-Kanzlerkandidatin hob dabei die besondere Bedeutung der Zuwanderung aus der Türkei hervor. Viele der "sogenannten Gastarbeiter*innen" seien heute "deutsche Staatsbürger*innen" [Gender-Sternchen wird von den Grünen verwendet.] Sie haben "die westdeutsche Gesellschaft damals wirtschaftlich, kulturell, sozial und politisch maßgeblich mitgeprägt". Das tun sie laut Baerbock heute noch immer. Sie ist sich sicher:
"Damit ist die türkische Einwanderungsgeschichte auch eine große deutsche Erfolgsgeschichte für unser Land."
Um diese "angemessen" zu würdigen, müsste sie "viel mehr Aufmerksamkeit finden", so etwa "in Schulbüchern" und "in unserem gemeinsamen geschichtlichen Erinnerungsgedächtnis". Baerbock betont:
"Deutschland ist mehr als ein Einwanderungsland. Wir sind in der dritten, wenn nicht gar in der vierten Generation eine Einwanderungsgesellschaft. In diesem Land ist Diversität, ist Vielfalt schon lange Realität."
Die Grünen-Politikerin bemängelt hingegen, dass es in Deutschland an einem "Selbstverständnis" als einer "vielfältigen Einwanderungsgesellschaft" fehle. Es brauche einen "öffentlichen Diskurs, der alle Bewohnerinnen und Bewohner gleichberechtigt anerkennt und vor allen Dingen Rassismus und Ausgrenzung konsequent zurückweist und gesellschaftliche Pluralität positiv würdigt und vor allen Dingen staatlich fördert".
Baerbock kritisiert, es könne nicht gehen, dass der Nachname Schuld sei, "dass man eine Wohnung nicht bekommt" oder dass "aufgrund des Aussehens oder aufgrund des Passes plötzlich der Zugang zur Disco nicht gewährt" werde. Außerdem hebt sie hervor, dass gerade "in Führungspositionen", "in einigen Berufsgruppen" und "in der Politik" nicht alle "gleichberechtigt repräsentiert" seien.
Aus diesem Grund brauche es ein "Bundespartizipations- und Teilhabegesetz" – laut Baerbock ein "sehr sperriges Wort, aber mit wichtiger Bedeutung". Damit solle durchgesetzt werden, dass "bei Bundesgremienbesetzung deutlich besser die Vielfältigkeit in unserem Land" vertreten sei.
"Zugleich – das ist sozusagen der große Überbau – sollte aus meiner Sicht ein Leitbild 'Einheit in Vielfalt' in die Gestaltung unserer gemeinsamen Einwanderungsgesellschaft gesetzlich verankert werden. Das heißt dann, dass staatliches Handeln wirklich unsere vielfältige Gesellschaft berücksichtigt und Gleichberechtigung als Ziel definiert."
Neben der Berücksichtigung vom Faktor Migration bei Einstellungsverfahren soll laut der Grünen-Politikerin ein "kommunales Wahlrecht für Drittstaatsangehörige" geschaffen werden. Zudem plädiert sie für ein "modernes Staatsangehörigkeitsrecht mit der Abschaffung der Optionspflicht" – sprich: der Verpflichtung, sich zwischen der deutschen und der ausländischen Staatsangehörigkeit der Eltern zu entscheiden.
Baerbock mahnt, es gehe "nicht nur im die Gesellschaft" oder um "stärkere Gesetze". Um "Vielfalt wirklich überall sichtbar und repräsentativ zu machen", gehe es um einen selbst. Die Grünen-Partei habe daher als "erste Partei in Deutschland ein Vielfaltsstatut eingeführt". Damit solle gewährleistet werden, dass "Vielfalt wirklich gelebt wird in unserer Partei". Darüber hinaus geht es Baerbock darum, "dass sich mehr Menschen, dass sich die ganze Breite in unserer Gesellschaft in demokratischen Parteien organisiert".
Das große Ziel ist laut der Grünen-Spitzenkandidatin:
"Nicht nur über Einwanderung zu reden, sondern vor allen Dingen darüber zu reden, wie wir Gleichstellung und Teilhabe in unserer Gesellschaft wirklich schaffen können, wie wir Antidiskriminierung voranbringen können und Diskriminierung gemeinsam bekämpfen."
Das dient letztlich als Begründung dafür, die Einwanderungspolitik aus dem Innenministerium herauszuheben und "durch eine teilhabeorientierte Perspektive" zu ersetzen. Baerbock resümiert:
"Wir sind dabei, und es ist an der Zeit, eine wirkliche Teilhabegesellschaft für alle zu schaffen."
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