Armutsrisiko in Deutschland liegt bei 16 Prozent: Arme Männer sterben 8,4 Jahre früher als reiche

Währen Sozialminister Heil den Armutsbericht der Bundesregierung verteidigt und Deutschland "keine Abstiegsgesellschaft" attestiert, laufen Sozialverbände und Opposition mit ernüchternden Zahlen auf: Arme Männer leben 8,4 Jahre kürzer, arme Frauen 4,4 Jahre weniger als reichere.

Seit 20 Jahren wird in jeder Legislaturperiode dem Deutschen Bundestag eine Bestandsaufnahme der sozialen Lage vorgelegt. Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) hat den Bericht über die Entwicklung von Armut und Reichtum im Mai vorgestellt. Nur wie er die Zahlen interpretiert, ist zumindest nach Ansicht der Sozialverbände und der Opposition bei Weitem nicht alles. Heil erklärte:

"Deutschland ist keine Abstiegsgesellschaft, weiterhin bestehen gute Aufstiegschancen aus der Mitte nach Oben."

Allerdings erkennt auch er an, dass

"die Verfestigung in den unteren sozialen Lagen problematisch ist, aus denen es im Zeitablauf immer weniger Personen gelungen sei, aufzusteigen."

Für die Opposition der Linken ist das ein Armutszeugnis der Tatenlosigkeit der Bundesregierung. Die Armutsquote  (gemessen am Anteil der Bevölkerung mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittsnettoeinkommens) liegt bei 16 Prozent, steigende Tendenz. Ein bitteres Fazit zieht die sozialpolitische Sprecherin der Linken, Katja Kipping. Sie sagt:

"Wer arm ist und in prekären Arbeitsverhältnissen tätig ist, der ist häufiger Lärm und Luftverschmutzung ausgesetzt. Der Bericht bestätigt also auch, dass Soziales und Ökologisches eng zusammenhängen, und das unteilbar. Armut macht das Leben nicht nur härter, sondern auch kürzer. Im Schnitt sterben ärmere Männer, also Männer der unteren Einkommensgruppe, 8,4 Jahre eher als reiche - 8,4 Jahre weniger Leben!"

Arme Frauen leben übrigens 4,4 Jahre kürzer als reiche.

Auch die AfD sieht Entwicklung dramatisch. Der sozialpolitische Sprecher René Springer nennt den 6. Armuts- und Reichtumsbericht "ein Dokument des Scheiterns der Bundesregierung." Springer sagt RT DE gegenüber:

"Vor allem die niedrigen Einkommen steigen seit Jahren kaum mehr. Gleichzeitig gibt es einen starken Zuwachs des Vermögens, insbesondere des Immobilienvermögens, wobei der rasante Preisanstieg bei Immobilien den Erwerb eines Eigenheims für Nicht-Vermögende beinahe unmöglich macht."

Die Zahlen bestätigen dies. Über den Beobachtungszeitraum von 2006 bis 2016 erkennt der Bundesbericht, wie sich Nettoäquivalenzeinkommen deutlich aufwärts bewegen. Das mittlere Einkommen stieg real von 20.746 Euro um mehr als acht Prozent auf 22.455 Euro.

Tatsächlich wies aber der Reallohnindex zwischen 2010 und 2019 einen Anstieg von jahresdurchschnittlich 1,2 Prozent aus. In den Jahren 2013 und 2020 gab es sogar negatives Lohnwachstum. Springer meint, dass von einem "deutlichen Anstieg" also keine Rede sein könne. 

Während der Anstieg des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung mit 1.709 Euro in zehn Jahren kaum zu sehen ist, beträgt dieser Anstieg bei Menschen mit Migrationshintergrund nur 1.000 Euro. Das Armutsrisiko liegt nach dem Mikrozensus 2019 bei 15,9 Prozent. 

Auch die Auswirkungen der Pandemie beschränken sich nicht nur auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Insbesondere bringt die Pandemie das Risiko mit sich, die bestehende Ungleichheit mittel- oder sogar langfristig zu erhöhen und Fortschritte bei der Gleichstellung rückgängig zu machen. Es wird klar, dass Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Einkommen oder auch geringerem Bildungsstatus bei der Bewältigung der pandemiebedingten Umstände besonders großen Hürden ausgesetzt sind.

Im Papier der Bundesregierung heißt es:

"Die Entlohnung und Arbeitsbedingungen in zumeist von Frauen ausgeübten systemrelevanten Tätigkeiten, insbesondere in Gesundheits- und Pflegeberufen sowie Bildungs- und sozialen Berufen sowie im Einzelhandel spiegeln häufig deren gesellschaftliche Bedeutung nicht angemessen wider."

Infolge der Schließung von Einrichtungen der Kinderbetreuung und Schulen hätten gerade erwerbstätige Mütter große Mehrfachbelastungen durch Distanzunterricht und Kinderbetreuung neben der Berufstätigkeit erlebt, auch wenn sich durchaus ein substantieller Teil der Väter stärker in der Familie engagiert habe. Der Umstand, dass Frauen seltener Vollzeit arbeiteten und häufiger geringfügig beschäftigt seien, vor allem in stark betroffenen Branchen wie dem Gastgewerbe, führte dazu, dass sie oftmals empfindlichere Einkommenseinbußen als Männer hätten und besonders in niedrigen Einkommensbereichen von Jobverlusten betroffen seien.

Ein weiterer Trend dürfte aber dennoch weiter anhalten: Der Osten verarmt. Die Unterschiede zwischen Ost und West haben sich kaum verringert. Aktuell beträgt das Nettovermögen westdeutscher Haushalte, was das durchschnittliche Nettogesamtvermögen angeht, mit 182.000 Euro mehr als das Doppelte der ostdeutschen Nettohaushaltsvermögen von 88.000 Euro.

Der Begriff Altersarmut kommt auf 539 Seiten nur zweimal vor. So auch der Begriff Kinderarmut. Dabei beziehen 562.000 Personen Grundsicherung. Das DIW schätzt die Zahl der bedürftigen Alten, die aus Scham nicht zum Amt gehen, auf 60 Prozent davon ein. Rund 12,5 Prozent der Senioren liegen unter der Armutsgrenze. Eine Million Rentner arbeiten in Deutschland, ein Viertel der 1,66 Millionen Tafel-Kunden sind Rentner. 

Jedes fünfte Kind im Land ist arm, bei Kindern mit Migrationshintergrund sind es sogar 35,2 Prozent. 

Während die AfD nun mehr auf einen Ehekredit für Deutsche und Zugewanderte, die seit mindestens 20 Jahren im Land leben, setzt, warnt die Linke vor der verdeckten Armut. Die linke Sozialpolitikerin Susanne Ferschl fordert im Bundestag einen Corona-Zuschlag, der auf Grundleistungen eingeführt werden solle, um damit entstandene Pandemieschäden zu beseitigen. Um das Existenzminimum zu sichern, fordert sie eine sanktionsfreie Mindestsicherung von 1.200 Euro, die Hartz IV-Leistungen ersetzen solle. Mit der Idee einer Grundsicherung könnten unter Abstrichen auch manche in der AfD leben. Beide Anträge werden in der letzten Sitzungswoche im Bundestag weiter debattiert. 

Dr. Birgit Fix, Referentin für Armuts- und Arbeitsmarktfragen im Deutschen Caritasverband e.V. sieht RT DE gegenüber eine Mindestsicherung sehr skeptisch:

"Wir sind dagegen. Wir finden, dass es innerhalb der bestehenden Systeme eine andere Lösung geben müsste."

Sie warnt, dass sich in der Corona-Krise die Bedeutung der sozialen Infrastruktur für die Bewältigung der Pandemie-Folgen erneut besonders deutlich gezeigt habe. 

Der jüngste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeige: Wer in Deutschland arm ist, bleibt es für lange Zeit und vererbt es an seine Kinder und nicht selten an deren Kinder. Fix sagt:

"Die Wahrscheinlichkeit für jemanden, der arm ist, sich auch in der nächsten Fünfjahresperiode noch in dieser Lage zu befinden, liegt heute bei 70 Prozent, in den 1980er Jahren waren es nur 40 Prozent."

Chancengerechtigkeit muss unabhängig von sozialer, sozioökonomischer oder kultureller Herkunft hergestellt werden. Dafür sind jetzt gezielte politische Anstrengungen notwendig. Das gilt nach der Corona-Pandemie umso mehr. Zu den Auswirkungen der Pandemie liefert der Bericht erste Erkenntnisse. 

Deutlich zu wenig werden im vorliegenden Bericht aus Sicht des Deutschen Caritasverbandes die Folgen beleuchtet, welche die Armutserfahrung für junge Menschen hat.

Zentral für die Überwindung von Armut und die Gestaltung von Teilhabe sind gute Zugänge zu präventiven Leistungen, Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe sowie Familienförderung, sozialen Einrichtungen und Diensten der Gesundheit sowie zur Allgemeinen Sozial- und Schuldnerberatung für alle Menschen in Deutschland. Der 6. Armuts- und Reichtumsbericht bestätigt diesen Befund.

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