Im Interview mit RT DE schätzt der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Nils Diederich, der von 1976 bis 1987 sowie von 1989 bis 1994 für die SPD im Bundestag saß, die Rolle der Grünen bei den Bundestagswahlen im September als stark ein:
"Die Grünen werden wieder zweitstärkste Partei. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die Sozialdemokraten ihre erlittenen Verluste in den Umfragen wieder aufholen können, und gehe davon aus, dass die Grünen einer noch stärkeren Christdemokratischen Partei gegenüberstehen. [...] Dabei wird es den Christdemokraten noch gelingen, unentschlossene oder unzufriedene Wähler auf ihre Seite zu ziehen, während die Grünen ihr Wählerpotenzial bereits voll ausgeschöpft haben."
Einer möglichen "Linkskoalition" aus SPD, Grünen und Linken erteilt der Politikwissenschaftler eine Absage, "solange die AfD im Parlament vertreten ist".
Auf die Frage, was die Grünen eigentlich noch von SPD und Linken unterscheidet, die sich ähnlich "in die Mitte der Gesellschaft" begeben haben und auf Identitätspolitik, Klimaschutz und hohe Abgaben setzen, erwiderte Diederich:
"Tatsächlich haben sich die Zielsetzungen angeglichen. Doch bei den Grünen herrscht die Tendenz vor, die Klimafrage fast schon zu einem ideologischen Grundbekenntnis zu machen. Die Frage ist, ob die Grünen diese Zielsetzung durchhalten können angesichts der hohen Kosten, die mit dem Umstieg [auf "klimaneutrales" Wirtschaften] verbunden ist."
Das den Grünen anhaftende Stigma der Verbotspartei wird laut Diederich an der Realpolitik scheitern. Er setzt dagegen eher auf Überzeugungsarbeit und langfristige Perspektive "angesichts der veränderten Klimabedingungen".
Bezüglich der Spitzenkandidatin Baerbock meint Diederich:
"Sie vertritt auch eine neue, heranwachsende Generation, die mit viel Frische und Idealismus versucht, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. Sie repräsentiert eine unbelastete Generation: Anders als Frau Merkel, die in der DDR aufwuchs, ist Baerbock zu 100 Prozent das Produkt einer Wohlstandsgesellschaft, die sich nun bequem anderen Fragen widmen kann und nicht mehr um die eigene Existenz bangen muss."
Angesprochen auf fehlende Regierungserfahrung, sieht der Berliner kein Problem:
"Das kann sogar ein Vorteil sein, da sie unbefangen an die Dinge herangehen wird. Allerdings muss man erwarten, dass sie öfter mit den Kopf gegen die Wand rennen wird und den Ausgang erst finden muss. [...] Nicht zuletzt ist sie umrahmt von Beamten und institutionellen Strukturen, die verhindern, dass da sehr viel Unfug passiert."
Befragt zur Außenpolitik und speziell zu Russland, antwortet Diederich mit Blick auf eine grüne Kanzlerschaft:
"Grundsätzlich ist die Bundesrepublik eingebunden in die NATO, doch weiß jeder Politiker und jeder in Deutschland, dass aufgrund der Geschichte vor 70, 80 Jahren ein freundschaftliches Verhältnis zu Russland naheliegt und die Grünen dabei vielleicht sogar neue Akzente setzen können. Nicht zuletzt, da Baerbock und ihre Mannschaft unbefangener und unbelasteter an die Dinge herangehen können."
Doch klar sei auch:
"Es gibt natürlich internationale Verflechtungen und das Verhältnis zur Ukraine und den Konflikt mit Russland, der aufgrund der Annexion der Krim und den Konflikten in den ostukrainischen Gebieten vom Westen kritisch beäugt wird. Das wird ein diffizile Geschichte werden, doch man kann von den Grünen erwarten, dass sie den Versuch machen werden, ein freundschaftliches Verhältnis zu Russland zu entwickeln."
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