Hundert Tage nach dem Amtsantritt Joe Bidens sei in den außenpolitischen Zirkeln in den USA Enttäuschung über die Unbeweglichkeit Deutschlands zu vernehmen, berichtet ein FAZ-Korrespondent aus Washington. In dem Meinungsbeitrag unter dem Titel "Ein neues German problem?" heißt es, dass sich das Unbehagen in Washington über die deutsche Außenpolitik nicht auf die Debatte um die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 beschränke. Berlin stelle sich vielmehr in den zentralen strategischen Fragen westlicher Politik "quer". Dabei geht es nicht nur um deutsche Außenpolitik gegenüber Russland, sondern auch um jene gegenüber China.
"John Kornblum, der frühere amerikanische Botschafter in Deutschland, spricht aus, was Diplomaten, die nicht zitiert werden wollen, andeuten: In der atlantischen Welt gebe es ein neues 'German problem'."
In den westlichen Hauptstädten sei die Erleichterung groß gewesen, dass Donald Trump im vergangenen November aus dem Amt gewählt wurde. Dass mit dem Demokraten alle transatlantischen Konflikte vergessen sein würden, glaubte keiner, so der FAZ-Autor. Das transatlantische Blatt gesteht, Trump sei kein Betriebsunfall der Geschichte gewesen, sondern die "Manifestation einer tieferen Krise der führenden westlichen Demokratie", die die Folgen der Globalisierung zu lange außer Acht gelassen habe.
Biden habe daraus die Schlussfolgerung gezogen, eine "America First"-Politik mit freundlichem Gesicht zu verfolgen: "Internationale Politik wird daraufhin überprüft, was sie für den amerikanischen Arbeiter bedeutet." Dabei stellt sich die Frage, was sich hieran für Deutschland ändert. "Und der neue Präsident hatte auf Verständnis seiner Bündnispartner gehofft, zumal Deutschlands, das Trump als Prügelknabe diente", kommentiert die FAZ.
Biden habe klargestellt, dass er auf eine koordinierte Strategie mit den Verbündeten gegen China setze. Die US-Regierung mache deutlich, "wo ihre Prioritäten liegen": die mutmaßliche Gefahr, die von China ausgeht. China stelle eine Herausforderung dar, der sich die US-Partner annehmen sollten.
"In den Gesprächen über eine härtere Gangart gegenüber der selbstbewusster auftretenden Volksrepublik soll Berlin aber ausweichend reagieren. Das gilt auch für die Russland-Politik."
In Bezug auf die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 unterscheide sich Bidens Strategie gegenüber seinem Vorgänger darin, dass es anders als Trump bei der neuen US-Regierung nicht darum gehe, amerikanisches Flüssiggas zu verkaufen. Für die FAZ ist das immerhin eine positive Entwicklung.
"In Washington heißt es: Deutschland wolle stets für die EU sprechen, es spreche aber nicht für die EU," so die Darstellung der FAZ. In Berlin werde dies bestritten und stattdessen mit Blick auf Nord Stream 2 darauf verwiesen, dass die deutsche Beweglichkeit nun einmal eingeschränkt sei. Zum einen sei man rechtlich gebunden, zum anderen bewerte man die Frage der eigenen Energiesicherheit politisch anders als Washington.
Als Russland kürzlich Truppen an die ukrainische Grenze verlegte und die Krise zu eskalieren drohte, sei es dennoch zwischen Berlin und Washington zu einer engen Abstimmung gekommen.
Die Debatte über die China-Politik sei aber zwischen den beiden Verbündeten längst nicht "so weit fortgeschritten wie die über Russland", schlussfolgert die FAZ.
"Es gibt aber in Washington die Vermutung, dass Berlin sich dagegen wehrt, Manövriermasse der amerikanischen China-Politik zu sein."
Hierbei ist anzumerken, dass laut Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap Ende 2020 nur 17 Prozent der Deutschen dem langjährigen Alliierten USA in einem Konflikt mit China beispringen würden, 77 Prozent würden sich hingegen heraushalten. Die transatlantischen Meinungsmacher versuchen dennoch, Druck auf Berlin auszuüben, damit die Bundesregierung die "China- und Russlandfrage" aus dem Blickwinkel der Sicherheitspolitik der USA betrachtet. Was deutsche Interessen in Bezug auf Nord Stream 2 oder den Handel mit China betrifft, bestimmt offenbar Washington, wo die Prioritäten liegen sollen.
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