Über Wochen schrillten die Alarmglocken. Die britische Mutante B.1.1.7. aus England sei drauf und dran, die Welt zu erobern und die bisherige Variante des Erregers SARS-CoV-2 zu verdrängen. Doch nicht nur das: Die "britische Mutante" getaufte Variation sei "zu 60 Prozent" ansteckender und vor allem tödlicher.
Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich zutiefst besorgt und sprach gar von einer "neuen" Pandemie.
"Im Wesentlichen haben wir ein neues Virus, natürlich derselben Art, aber mit ganz anderen Eigenschaften – deutlich tödlicher, deutlich infektiöser, länger infektiöser."
Rufe nach einer Impfflicht und einem strengeren Lockdown wurden laut. Die Bundesregierung erklärte eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes zum Gebot der Stunde, um bundesweit einheitliche Regeln verhängen zu können – samt Ausgangssperren. Zudem können die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Freizügigkeit und der Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt werden.
Britische Virusvariante doch nicht tödlicher
Vor allem der Gesundheitsökonom Karl Lauterbach galt auch in Sachen B.1.1.7. als Warner und Mahner der ersten Stunde. Doch britische Wissenschaftler legten vor wenigen Tagen eine Studie vor, wonach B.1.1.7 eben nicht tödlicher sei – von einer "neuen" Pandemie kann demnach nicht gesprochen werden. Die entsprechende Studie wurde am 12. April im Fachmagazin The Lancet Infectious Deseases veröffentlicht.
Zwar gebe es "zunehmend Hinweise auf eine erhöhte Übertragbarkeit" der britischen Variante des Erregers, so die Experten, doch den Wissenschaftlern gelang es dabei nicht, den Nachweis für eine höhere Sterblichkeit bei einer Infektion mit B.1.1.7 zu erbringen. Für Lauterbach ist das "ein gutes wie überraschendes Ergebnis".
Dennoch wollte sich Lauterbach auf dem Kurznachrichtendienst Twitter mit der positiven Nachricht nicht zufriedengeben. Aufgrund der Aussage "einiger Wissenschaftler" bleibe die Frage nach einer erhöhten Sterblichkeit offen, war sich der SPD-Politiker sicher.
"Rein epidemiologisch würde man höhere Sterblichkeit erwarten. Weil unstrittig deutlich höhere Viruslast typischerweise auch eine schwerere Erkrankung und Sterblichkeit zur Folge hat. Daher gehe ich zunächst auch weiter von erhöhter Sterblichkeit aus."
Und während Berichte über neue Varianten des Erregers mittlerweile regelmäßig erscheinen – auch weil dies in der Natur der Sache liegt – könnte nun vor allem eine Mutation aus Indien für neue Ängste in der Bevölkerung sorgen: B.1.617
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), das Robert Koch-Institut (RKI) und andere Experten bewerten die Variante zunächst zurückhaltend. B.1.617 stehe derzeit unter Beobachtung, für eine Einstufung als "besorgniserregend" fehle bislang "die entsprechende Evidenz". Was Deutschland anbelangt, erklärte eine Sprecherin des RKI:
"In Deutschland sind insgesamt acht aus dem März stammende Sequenzen der Linie B.1.617 identifiziert worden."
In Indien sollen die "Fallzahlen" geradezu explodiert sein. Zuletzt habe es rund 270.000 registrierte "Neuinfektionen" pro Tag gegeben. Die Variante trage demzufolge zwei Mutationen an einem Oberflächenprotein, die von anderen unter Beobachtung stehenden Linien bekannt seien.
Beide würden "mit einer reduzierten Neutralisierbarkeit durch Antikörper oder T-Zellen in Verbindung gebracht, deren Umfang nicht eindeutig ist", so das RKI. Möglicherweise könnten Geimpfte und Genesene vor einer Ansteckung mit dieser Variante weniger gut geschützt sein, wird aktuell spekuliert.
Lauterbach fordert schärfere Bundesnotbremse
Derweil geht Lauterbach bereits einige Schritte weiter und wittert erhebliche Gefahr. Auf Twitter zeigte sich der SPD-Politiker alarmiert:
"Neue Indien SarsCoV Variante B1.617 ist besorgniserregend. In UK, wo es neben B117 auch hohen Anteil Geimpfter gibt, wächst sie schneller als alle anderen Varianten. In Indien explodiert die 3. Welle geradezu mit dieser Variante. Erneut hat sich das Spike Protein verändert."
Für Deutschland, so Lauterbach weiter, "bedeutet das besondere Gefahr, weil auch B117 über UK sehr schnell zu uns kam". Entsprechend ruft der 58-Jährige wieder nach strengeren Corona-Maßnahmen Regeln. Die sogenannte "Bundesnotbremse" müsse verschärft werden.
"Die Bundesnotbremse sollte verschärft werden, weil sie nicht nur die Todesfälle bis zum Sommer bestimmt, sondern auch Impferfolg absichert. Mutationen verbreiten sich sonst schnell."
Das indische Gesundheitsministerium hatte Ende März über die sogenannte Doppelmutante berichtet. Wie oft diese bisher vorgekommen ist, konnte ein Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums auf Anfrage nicht sagen.
In einer kürzlich veröffentlichten Mitteilung hieß es, sie sei inzwischen in Ländern wie Deutschland, Australien, Belgien, Großbritannien, den USA oder Singapur zu finden. Eine höhere Übertragbarkeit sei nicht nachgewiesen. Einige Experten in Indien gehen jedoch davon aus, dass die Mutante zu den schnell steigenden Infektionszahlen in dem Land beitragen könnte.
Für die Variante gebe es nicht viele Daten, sie sei in Europa sehr selten, sagt Richard Neher, Leiter der Forschungsgruppe Evolution von Viren und Bakterien am Biozentrum der Universität Basel.
"Aus den wenigen Beobachtungen kann man noch keinen verlässlichen Trend ableiten, aber das sollte genau beobachtet werden."
Über eine Vielzahl von Varianten mit bemerkenswerten Mutationen existiere nicht viel Wissen. Neher ergänzt: "Insofern glaube ich nicht, dass B.1.617 mehr Aufmerksamkeit verdient als andere Varianten."
Der Leiter der Virologie an der Berliner Charité, Christian Drosten, hatte die indische Variante Ende März ebenfalls nicht als Grund zur Beunruhigung gesehen.
Mehr zum Thema - Drosten und Lauterbach einig: Bundes-Notbremse geht nicht weit genug