In Deutschland soll nach dem Willen von Bundeskanzlerin Angela Merkel das Infektionsschutzgesetz (IfSG) geändert werden. Nur so sei es möglich, einheitliche Maßnahmen zu ergreifen, um die von der britischen Corona-Mutante ausgehende Gefahr der "dritten Welle" zu brechen.
Wie seit über einem Jahr ist es die sogenannte "7-Tage-Inzidenz", die den politischen Entscheidungsträgern den Schweiß auf die Stirn treibt und mutmaßlich immer wieder tiefe Einschnitte in die Freiheitsrechte der Menschen unverzichtbar macht. Aktuell soll die "Bundes-Notbremse" ab einem Inzidenzwert von 100 greifen – samt Ausgangssperre.
Doch die Inzidenz als Grundlage sämtlicher politischer Corona-Entscheidungen ist keineswegs unumstritten. Nun waren es der ehemalige Leiter des Globalen Influenza und Pandemievorbereitungsprogrammes der WHO Genf, Prof. Dr. Klaus Stöhr, und der ehemalige Chef am Institut für Virologie der Berliner Charité, Prof. Dr. Detlev Krüger, die deutliche Worte fanden. Beide Experten sprachen sich angesichts der Novellierung des IfSG für "verlässliche Entscheidungsgrundlagen" aus. Weiter heißt es in dem von beiden verfassten offenen Brief an die Adresse des Deutschen Bundestages sowie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble:
"Wir raten dringend davon ab, bei der geplanten gesetzlichen Normierung die '7-Tage-Inzidenz' als alleinige Bemessungsgrundlage für antipandemische Schutzmaßnahmen zu definieren."
Das Robert Koch-Institut (RKI) bezeichnet mit der 7-Tage-Inzidenz die Zahl der Personen, bei wie vielen Menschen pro 100.000 Einwohner – und zwar "unabhängig von einer Erkrankung" – mittels Diagnostiktest eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 nachgewiesen wurde.
Doch aufgrund der "durchaus erwünschten Ausweitung von Testaktivitäten" gebe der Wert "zunehmend weniger die Krankheitslast in der Gesellschaft wieder".
Die Experten sind sich sicher:
"Bewertungsgrundlage für die Auswahl von Schutzmaßnahmen sollte nicht die Inzidenz der Infektionen sein, sondern vielmehr die Häufigkeit der Erkrankungen und ihre jeweilige Schwere, also insgesamt die Krankheitslast."
Die beiden Virologen halten fest, dass die im Gesetzesvorhaben vorgesehene 7-Tage-Inzidenz nicht differenziere, "in welchen Altersgruppen, Lebensräumen und Bevölkerungsgruppen Infektionen auftreten". Dies sei offensichtlich nicht nachvollziehbar, da es einen "dramatischen" Unterschied mache, ob die Inzidenz "zum Beispiel bei primär gesunden Studierenden, bei schwer erreichbaren Bevölkerungsgruppen, bei besonders vulnerablen Menschen oder diffus in der Gesamtbevölkerung verteilt gemessen" werde.
Der Vorgänger von Christian Drosten auf dem Chefposten der Virologie an der Berliner Charité und sein renommierter Kollege und Epidemiologe sind bei ihrer Kritik an eine "verbindliche Koppelung von Maßnahmen an die 7-Tage-Inzidenz der Infektionen", wie sie der Bundesregierung vorschwebt, wenig zimperlich.
Bei dem entsprechenden Vorgehen drohten massive Kollateralschäden wie "gravierende Auswirkungen auf die Wirtschaft, Kultur und die körperliche und seelische Gesundheit" selbst dann, "wenn längst weniger krankenhauspflichtige Erkrankungen als während einer durchschnittlichen Grippewelle" zu verzeichnen seien.
Durch die aktuellen Entwürfe zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes entstehe sowohl die Gefahr eines "Mangels an Sachbezug" als auch eine "Verletzung der Verhältnismäßigkeit".
Die weit über die Grenzen Deutschlands hinaus anerkannten Wissenschaftler warten zudem mit einem eigenen Vorschlag auf, um das Geschehen tatsächlich angemessen beurteilen zu können. Es handele sich dabei um eine "leicht zu bestimmende und zu kommunizierende Bemessungsgrundlage".
Diese bestünde in der "täglichen Anzahl der COVID-bedingten intensivstationären Neuaufnahmen, differenziert nach Landkreis des Patientenwohnorts, Alter und Geschlecht mit Berücksichtigung diesbezüglicher zeitlicher Trends".
Stöhr und Krüger legen Wert darauf, zu betonen, dass es dabei jedoch nicht um die "Anzahl der mit COVID-19 belegten Intensivbetten" gehe, wie sie vom DIVI-Register regelmäßig veröffentlicht wird, auch wenn es sich bei dieser ebenfalls um "eine wichtige Information bezüglich der Versorgungslage" handele.
"Die Zahl intensivstationärer Neuaufnahmen kann die Dynamik des Infektionsgeschehens besser abbilden als die intensivmedizinische Belegungsstatistik."
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