Nächtliche Ausgangsbeschränkungen bei einer Corona-Inzidenz über 100 und Schulschließungen ab einem Inzidenzwert 200: So lautet der Vorschlag der Bundesregierung für bundeseinheitliche Maßnahmen gegen die dritte Corona-Welle. Der am Freitag bekannt gewordene Entwurf für eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes soll nun mit den Fraktionen im Bundestag und mit den Ländern abgestimmt werden. Das Gesundheitsministerium bat die Fraktionen nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur (dpa) um Anregungen bis Sonntagmittag.
Überschreitet die Sieben-Tage-Inzidenz in einem Landkreis den Wert von 100 positiv auf SARS-CoV-2 getesteten Personen je 100.000 Einwohnern, dann sollen laut dem Entwurf die schärferen Maßnahmen zum Tragen kommen – das beträfe aktuell mehr als die Hälfte aller Landkreise in Deutschland.
Private Zusammenkünfte wären dann auf Angehörige des eigenen Haushalts und eine weitere Person je Tag und Haushalt beschränkt. Schulen und Hochschulen dürften nur noch Präsenzunterricht anbieten, wenn alle Teilnehmer einen negativen Test auf SARS-CoV-2 vorlegten, der nicht älter als 36 Stunden ist. Ab einem Inzidenzwert 200 darf nur noch Distanzunterricht angeboten werden.
Zudem sollen dann Ausgangsbeschränkungen von 21 Uhr abends bis 5 Uhr morgens gelten. Ausnahmen soll es nur in wenigen Fällen geben, etwa für medizinische Notfälle, den Weg zur Arbeit oder die Versorgung von Tieren, nicht aber für abendliche Spaziergänge alleine oder für sportliche Betätigungen wie Joggen.
"Unverhältnismäßig" – Kritik an geplanter Ausgangssperre
Die FDP sieht den am Samstag eingegangenen Entwurf "äußert kritisch". Die Liberalen stören sich daran, dass die Änderungen im Infektionsschutzgesetz im Eilverfahren durchgesetzt werden sollen. "Mit Rechtsverordnungen ohne Beteiligung des Parlaments soll die Bundesregierung zukünftig Grundrechte einschränken dürfen. Diese Idee sollten die Regierungsfraktionen verwerfen", forderte FDP-Chef Christian Lindner nach Beratungen mit den Fachleuten seiner Partei.
Falsch sei demnach auch eine alleinige Orientierung an dem Inzidenzwert von 100. Dieser bilde das Pandemiegeschehen vor Ort nur unzureichend ab. "Als Auslöser für massive Freiheitseinschränkungen ist eine schwankende Zahl, die auch nur politisch gegriffen ist, nicht geeignet", so Lindner. Insbesondere kritisierte der FDP-Chef die geplante Ausganssperre:
"Die vorgesehene scharfe Ausgangssperre schließlich ist unverhältnismäßig. Beispielsweise geht vom abendlichen Spaziergang eines geimpften Paares keinerlei Infektionsgefahr aus. Diese Bestimmung ist verfassungsrechtlich höchst angreifbar."
Auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller sieht eine komplette nächtliche Ausgangssperre zur Eindämmung der Corona-Pandemie kritisch. Eine solche Maßnahme sei "mit Sicherheit kritisch zu hinterfragen", teilte der SPD-Politiker am Samstag der dpa mit. "Aus Berliner Sicht kann ich sagen, dass wir viele Maßnahmen in diesem Entwurf schon beschlossen haben." Es bleibe in der Verantwortung der Länder, das Gesetz umzusetzen, sollte es "in dieser oder ähnlicher Form verabschiedet werden".
Lauterbach kritisiert Streeck für Ablehnung von Ausgangssperren
Hendrik Streeck lehnt einen härteren Lockdown mit Ausgangssperren ab. Im Videopodcast 19 – die Chefvisite sagte der Bonner Virologe:
"Dadurch feuern wir das Infektionsgeschehen weiter an."
Vor allem sozial Schwache in beengten Wohnverhältnissen würden sich infizieren, so Streeck unter Berufung auf Daten des Robert Koch-Institus (RKI). Diese Menschen hätten bei einer Ausgangssperre nicht die Möglichkeit, sich Corona-konform aus dem Weg zu gehen. Streeck fordert stattdessen: "Wir schaffen sichere Bereiche draußen, wo die Menschen sich treffen können, anstatt sie weiter zusammenzudrängen." Denkbar seien etwa gelüftete Turnhallen mit Sicherheitspersonal. Auch die Außengastronomie mit ihrem vergleichsweise geringen Infektionsrisiko könne dabei eine Rolle spielen.
Streeck mahnt zu mehr Gelassenheit. In Frankreich liege die Inzidenz bei 400 und damit viermal höher als in Deutschland. "Die gehen damit relativ gelassen um", zitiert ihn das RedaktionsNetzwerk Deutschland. Hierzulande führten steigende Inzidenzwerte dagegen zu Warnungen, "als ob Deutschland kurz vor der Triage" stehe. Im Hinblick auf die unklare Datenlage nach Ostern seien "ruhige Abwägung und Langzeitblick" gefragt.
Streecks Mahnung rief prompt Kritik von Karl Lauerbach hervor. In einem Tweet des SPD-Politikers heißt es:
"Jetzt kommt erneut Ruf nach 'Gelassenheit' von Hendrik Streeck. Auch Ausgangssperren lehnt er ab. Aber Ausgangssperren am Abend wirken nach bester Analyse aller Daten der Oxford Uni."
Werden Ausgangssperren von Gerichten gekippt?
Vergangene Woche hatte auch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) erhebliche Zweifel an dem Mittel der Ausgangsbeschränkungen im Kampf gegen Corona geäußert. Es bestätigte am Dienstag eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hannover. Dieses hatte erklärt, dass die angeordnete Ausgangsbeschränkung in der Region Hannover im Einzelfall voraussichtlich rechtswidrig ist. Per Eilbeschluss wurde der Einwand der Region Hannover gegen den Beschluss vom 2. April zurückgewiesen, wie das OVG in Lüneburg mitteilte.
Die Ausgangsbeschränkung sei keine notwendige Schutzmaßnahme, da sie gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße. Die Region Hannover hob daraufhin am Abend die entsprechende Allgemeinverfügung mit sofortiger Wirkung auf. Zuvor war dort das Verlassen von Wohnungen und Häusern zwischen 22.00 und 5.00 Uhr nur mit triftigem Grund erlaubt.
"Der Eilbeschluss, den das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hierzu verkündet hat, ist scharf und klar", kommentierte daraufhin die Hannoversche Allgemeine Zeitung. "Sinngemäß sagen die dortigen Juristen, die Regionsverwaltung habe ihre Hausaufgaben bei der Pandemiebekämpfung bisher nicht so erledigt, dass ein derart gravierender Eingriff in die Freiheitsrechte der Menschen zu rechtfertigen sei. Es sei 'nicht ansatzweise nachvollziehbar aufgezeigt' worden, warum die ja schon geltenden Kontaktbeschränkungen nicht auch ohne den nächtlichen Hausarrest durchzusetzen seien, meinen die Richter. Mit Recht.", so die Zeitung.
Auch im Märkischen Kreis, wo seit Freitag eine Ausgangssperre ab 21 Uhr gilt, müssen sich demnächst Richter mit der Maßnahme beschäftigen, nachdem laut lokalen Medien drei Eilanträge zu deren Aufhebung am Verwaltungsgericht eingegangen sind.
Die Polizei des Märkischen Kreises zog nach der ersten Nacht der Ausgangssperre eine Bilanz. Laut einer Pressemitteilung ahndeten die Beamten in 32 Fällen Ordnungswidrigkeiten. Insgesamt halte sich die Bevölkerung "weitestgehend an die Ausgangsbeschränkungen". Man habe "Verkehrsknotenpunkte, Fußgängerzone und sonstige bekannte Treffpunkte wie Schulhöfe" kontrolliert.
"Die Polizeibeamte stoppten sowohl Fahrzeuge als auch Fußgänger. Wer keinen triftigen Grund für seinen Aufenthalt außerhalb der Wohnung hatte, gegen den wurde eine Ordnungswidrigkeiten-Anzeige gefertigt. Darüber hinaus kamen immer wieder Hinweise auf größere oder kleinere Gruppen, die sich jedoch beim Eintreffen der Streifenwagen bereits aufgelöst hatten", heißt es in der Mitteilung.
Die geplanten Ausgangssperren in Deutschland werden auch im benachbarten Ausland aufmerksam verfolgt. Deutschland gebe im Kampf gegen die Pandemie "kein gutes Bild" ab, kommentierte etwa die schweizerische Neue Zürcher Zeitung. Über die Gründe – Regelungswut, Risikoscheu, fehlender Pragmatismus, Papierliebe – sei bereits viel geschrieben worden.
"Das Bild würde sich noch mehr eintrüben, wenn sich seine Bürger im 13. Monat der Pandemie zu Hause einsperren ließen: ohne einen Beleg für die Wirksamkeit dieser Freiheitsberaubung, weil der Staat auf so vielen anderen Ebenen versagt hat und weil Politiker wie der bayrische Ministerpräsident so gerne fest entschlossen wirken", so das Blatt.
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(rt/dpa)