Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat vor einer weiter anwachsenden dritten Infektionswelle durch das Coronavirus gewarnt, die sich auch nicht durch eine Impfung verhindern lasse. Der CDU-Politiker sagte laut Angaben der Deutschen Presse-Agentur bei einem Besuch im Impfzentrum Messe in Berlin:
"Impfen verhindert nicht die dritte Welle, die dritte Welle wächst."
Die Beispiele von Ländern mit bereits höherer Impfquote wie Chile, Großbritannien oder die USA zeigten, dass Kontaktbeschränkungen auch weiter notwendig seien. Vor allem die Situation auf den Intensivstationen und in den Kliniken sei angesichts steigender Auslastungszahlen besorgniserregend. Spahn mahnte:
"Wir müssen diese dritte Welle miteinander brechen und Kontakte reduzieren. Vor allem im privaten Bereich, in den Schulen, auf Arbeit, wo es eben geht."
Der Gesundheitsminister appellierte an die Länder, wo die Sieben-Tage-Inzidenz über 100 liege. Dort sei "die vereinbarte Notbremse konsequent umzusetzen, um die Zahlen runter zu bringen". Er teile die Forderungen aus der CSU nach bundeseinheitlichen Regeln, dass das Ziel sein müsse, diese Welle zu brechen. Und: "Idealerweise gibt es ein bundeseinheitliches Vorgehen". Der Weg dahin sein "nicht entscheidend", "viel entscheidender" sei, "dass es passiert, dass die Notbremse konsequent angewandt wird und dass wir diese Welle zügig besser früher als später brechen".
Zudem machte Spahn sich erneut für Erleichterungen bereits geimpfter Menschen stark. Es gehe darum, vollständig Geimpfte so behandeln zu können wie negativ Getestete. Allerdings machte er deutlich: Abstandsregeln, Hygiene und medizinische Schutzmasken seien für negativ Getestete wie für vollständig Geimpfte weiterhin notwendig. Getestete und Geimpfte hätten dieselben Möglichkeiten. Es müsse klargestellt sein, dass das Infektionsrisiko durch Testung oder Impfungen reduziert sei.
Eine dritte Welle, die immer weiter wächst?
Gegensätzliche Positionen vertritt hingegen der Leiter des Gesundheitsforschungsinstituts IGES in Berlin, Dr. Bertram Häussler, der als Honorarprofessor an der Technischen Universität Berlin im Fachgebiet Ökonomik der pharmazeutischen Industrie lehrt. In einem Interview mit der Welt widerspricht er einerseits Spahns Behauptung einer besorgniserregenden Auslastung der Intensivstationen, andererseits Merkels Formulierung einer "neuen Pandemie" – eine solche könne er nicht erkennen. Auch die Probleme der "jetzigen Welle sind die gleichen wie in der ersten oder zweiten". Die Hotspots blieben die gleichen – überwiegend an der tschechischen Grenze gelegen oder mit großen Fleischbetrieben innerhalb der Regionen. Häussler konkretisiert:
"Insgesamt 23 der 28 deutschen Corona-Hotspot-Kreise liegen im Einzugsgebiet der tschechischen Grenze. Tschechien hatte elffach höhere Inzidenzwerte als Deutschland."
In diesen Regionen liegt laut Häussler "der Schlüssel zu Lösungen unterhalb des Lockdowns". Deutschlands größter "Corona-Hotspot", der thüringische Landkreis Greiz, sei intensiv vom Grenzverkehr aus Tschechien und Polen betroffen. Zudem scheine das Impfen generell in Ostdeutschland und insbesondere in den grenznahen Gebieten "deutlich schlechter zu funktionieren als im Bundesdurchschnitt".
"Wenn es in diesen grenznahen Regionen zu so hohen Inzidenzen kommt, dass sie den Bundesdurchschnitt deutlich heben, dann sieht der Lockdown für ganz Deutschland nicht besonders geistreich aus. Da muss man vor Ort testen, testen, testen. Und mit den Arbeitgebern reden."
Als Problem benennt er den Lastwagenverkehr und die Arbeitsmigration – insbesondere von Männern unter 48 Jahren in der Fleischwirtschaft. Seit dem Ausbruch bei Tönnies in Gütersloh im Juni 2020 wisse man, "dass die Ausbruchsgefahr in Schlachthöfen hoch ist". Landkreise mit Schlachtbetrieben liegen "um acht Prozent über dem Bundesdurchschnitt" in der Inzidenz. Mitte Februar "stieg die Inzidenz in den fleischproduzierenden Kreisen sprunghaft um 25 Prozent" – zu diesem Zeitpunkt wurde in der Politik der "Beginn der dritten Welle" verkündet.
Aus Untersuchungen nach dem Tönnies-Fall ergab sich laut Häussler, "dass die Mehrheit der Infizierten männlich war und jünger als 48 Jahre. Sowohl die erste als auch die zweite Welle wurde eingeleitet von diesem Cluster".
"Es sind jüngere Männer, die in den Produktionsbetrieben arbeiten, auf dem Bau und eben in der Fleischwirtschaft. Darunter viele Arbeiter aus südosteuropäischen Ländern mit höherem Infektionsrisiko, die auf engstem Raum leben und arbeiten."
Häussler betont die Ähnlichkeit der Befunde zur ersten und zweiten Welle am Beispiel des Landkreises Schwäbisch Hall, wo "ein Fleischbetrieb angesiedelt" und "auch ein Flüchtlingsheim betroffen" ist: "Von beiden wissen wir, dass sie anfällig sind für Ausbrüche". Erneut prägten "vor allem jüngere Männer das Infektionsgeschehen in dem Kreis". Anstatt aber "passgenaue Präventionskonzepte zu entwickeln", werde ein bundesweiter Lockdown erwogen.
Der Mediziner zeigt sich dennoch nicht alarmiert über die "dritte Welle":
"Wenn die Modellierer von exponentiellem Wachstum reden, klingt das immer danach, als sei das ausschließlich das Werk der unheimlichen Mutante B.1.1.7. Als ob die Menschheit schutzlos ausgeliefert sei. Aber alles, was ich sehe, sind regionale Cluster und Hotspot-Landkreise, die es seit Beginn der Pandemie nicht geschafft haben, ihre Probleme in den Griff zu bekommen."
Die von dem SPD-Politiker Karl Lauterbach zitierten Zahlen von "Tausenden Toten" hält Häussler zwar für "eine gewaltige, eine beeindruckende Zahl". Allerdings müsste man sie in Relation setzen:
"Momentan sind wir bei 180 bis 250 Toten täglich. […] Wenn alles so bleibt wie bisher, ergibt das in der Woche rund 1.400 Corona-Tote, in fünf Wochen 7.000, in zehn Wochen 14.000. Das klingt sehr viel. Aber wir sind ein großes Land, in gewöhnlichen Zeiten stellte die Statistik gut 19.000 Sterbefälle fest in einer Woche."
Und auch die Intensivstationen seien noch lange nicht an ihrer Kapazitätsgrenze angekommen. Zudem werde die "Altersstruktur der Intensivfälle" nicht ausreichend erhoben, daher "können wir nur rätseln", ob mehr oder weniger junge Patienten betroffen seien. Häussler betont:
"Aktuell sind 3.700 COVID-Fälle auf Intensivstationen, davon 2.100 beatmet. Bei insgesamt 20.500 Intensivbetten sehe ich nicht, dass hier in absehbarer Zeit eine Triage stattfinden wird."
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