Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel, Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, kritisiert in einem Interview beim RedaktionsNetzwerk Deutschland deutlich die Corona-Politik der Bundesregierung: Die Bund-Länder-Beratungen seien "nicht besonders demokratisch", das Kanzleramt bereite Entscheidungen "schlecht" vor und die beteiligten Politiker seien "machtversessen". Als Ergebnis passierten "gravierende Fehler", wie etwa das "Impfdesaster".
Als Höhepunkt steht Angela Merkels öffentliche Entschuldigung – "nicht ganz ohne Theatralik" und natürlich mit Kalkül, denn "der Kanzlerin war bewusst, dass dann auch die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten sagen müssen: Wir waren dabei".
Die Ursachen für die Fehlentwicklungen sieht der Politikwissenschaftler in den Strukturen, etwa in der Bund-Länder-Beratung:
"Hier hat man ein informelles Gremium installiert, das nicht besonders demokratisch ist, nicht besonders transparent Entscheidungen trifft und – wie wir jetzt sehen – auch nicht besonders problemlösende Politiken vorschlägt."
Mit den Bund-Länder-Beratungen würden zugleich "der Bundestag und die Landtage an den Rand gedrängt" – zum Schaden der Demokratie und der "Qualität von Entscheidungen". Dies sei möglich durch "das geänderte Infektionsschutzgesetz", das "einen so weiten Spielraum für die Exekutiven" lasse, "dass die Lücke mit dem im Grundgesetz nicht vorgesehenen Gremium der Ministerpräsidentenkonferenz gefüllt wurde".
"Und wenn Institutionen so viel Macht an sich ziehen können, dann geben sie diese Macht so schnell nicht wieder her."
Wolfgang Merkel betont, dies sei "zumindest eine Strategie des Kanzleramts". Allerdings seien "die Ministerpräsidenten gern gefolgt":
"Sie haben die Macht genossen, die sie durch die Ministerpräsidentenkonferenz bekommen haben. Plötzlich wurden auch Politiker sichtbar, die viele Bürger bis dahin kaum kannten. […] Die Beteiligten sind machtversessen und gestaltungsvergessen. Sie lösen die Probleme unzureichend und werden damit selbst zum Problem."
Mit einem solchen Betragen verspielten die Politiker laut Wolfgang Merkel "die wichtigste Währung, die es in der Politik gibt: Vertrauen". Denn die Demokratie funktioniere nur, wenn die Bürger Einsicht haben und sich freiwillig den Gesetzen beugen: "Ohne ein hohes Maß an Freiwilligkeit funktionieren Demokratien nicht."
Der Politikwissenschaftler ist sich sicher, "das Ansehen der Kanzlerin" sei "zweifellos beschädigt". "Noch problematischer" sei aber, dass Merkel schon seit 16 Jahren regiere – "ihre kreativen Energien erscheinen uns erschöpft" und ihre Autorität sei "geschmolzen". Es sei ein grundlegender "Strukturfehler, dass unsere Verfassung es zulässt, dass man so lange am Stück regieren kann":
"Konrad Adenauer führte nach 1961 eine lähmende Regierung und wollte nicht abtreten. Ähnlich war es bei Helmut Kohl, der wie Frau Merkel ebenfalls 16 Jahre lang regiert hat. Es lag eine Art Mehltau über dem Land. Das wiederholt sich jetzt."
Daher plädiert der Politikwissenschaftler dafür, "die Amtszeiten von Kanzlerinnen und Kanzlern auf zwei, längstens drei Legislaturperioden" zu begrenzen,
"damit uns nicht demokratische Ersatzkönige und -königinnen regieren".
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