Auch nach fast einem Jahr ist das Thema Corona in den Medien omnipräsent. Dabei sind wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Forschung mittlerweile zum Politikum geworden, denn "frische" Forschungsergebnisse und vorab veröffentlichte Studien stehen nun immer öfter im Mittelpunkt der Diskussion. Dabei ist die Wissenschaft vom Diskurs geprägt, und es ist nicht ungewöhnlich, dass falsche Thesen durch neue Erkenntnisse revidiert werden.
Die Aufgabe der Medien sollte darin bestehen, die aktuellen Forschungsergebnisse allgemeinverständlich aufzubereiten, ohne sie zu verdrehen, zu beschönigen oder schlechtzureden. Die Spiegel-Redakteure Anton Rainer, Rafaela von Bredow und Veronika Hackenbroch erachteten es stattdessen offenbar als notwendig, Virologen in Deutschland zu "kategorisieren": eine Gruppe, die nach Auffassung der Redakteure richtig liege, und die der "Propheten auf dem Irrweg".
Bei von Bredow und Hackenbroch handelt es sich um jene Redakteurinnen, die bereits in einem Interview mit dem Virologen Christian Drosten auf Streeck losgingen und behaupteten, dass im vergangenen Jahr "Experten, die immer wieder gegen wissenschaftlich begründete Maßnahmen argumentiert haben, zum Beispiel Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrick Streeck", einen "größeren Schaden als Corona-Leugner angerichtet haben". Streeck und Schmidt-Chanasit sind bekannt dafür, dass sie die Lockdown-Politik der Bundesregierung kritisch sehen.
Brisanter als der Artikel selbst sind jedoch die Fragen, die der Spiegel im Laufe seiner "Recherche" an Streeck schickte. Für Streeck lasen sich diese nach eigener Aussage nicht als Fragen, sondern als Anklagepunkte in Frageform: So wollte man unter anderem von ihm wissen, "ob er seine Position als Wissenschaftler missbraucht habe, um Politik zu machen". Eine weitere Frage lautete:
"Wie stehen Sie zu dem Vorwurf, Sie hätten die Gefahren der Pandemie verharmlost?"
Für die Spiegel-Redakteure waren Streecks Fehleinschätzungen offenbar auch eine Frage von Leben und Tod:
"Sehen Sie sich in der Mitverantwortung für die getroffenen oder auch unterlassenen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung? Und in diesem Zusammenhang auch für viele Menschen, die gestorben sind?"
Außerdem sollte der Virologe offenbar Reue zeigen:
"Bereuen Sie diese mehrfach öffentlich geäußerte Fehleinschätzung?"
Wie Streeck selbst gegenüber Der Welt erklärte, war er "schockiert", als er diesen Fragenkatalog bekam:
"Das waren keine ergebnisoffenen Fragen, stattdessen las es sich wie die Inquisition einer Wissenschaftsjournalistin, die eine offensichtlich politische Mission hat."
Er habe nur zwei der 15 Fragen beantwortet, da der Rest zu "populistisch, polemisch und gespickt mit Unterstellungen" gewesen sei. Es sei "sinnlos, auf so etwas einzugehen":
"Man bekommt kaum 24 Stunden und fühlt sich wie vor Gericht – und dann diese Positionierung: Da ist einer, der hat recht, und dann sind da die anderen mit ihren sogenannten Falschaussagen. Das ist unfassbar primitiv. Es geht um einen wissenschaftlichen Diskurs, der wird so kaputtgemacht."
Im Spiegel-Artikel selbst kommt Streeck nicht gut weg: Zu Beginn des Artikels beziehen sich die Redakteure auf einen RTL-Bericht über Hendrick Streeck, der ein Kamerateam des Privatsenders privat bei sich zu Hause einlud, und monierten, dass der Virologe während der Sendung keine Maske getragen und zu wenig Abstand zur Reporterin gehalten habe. Im Artikel wird weiter argumentiert, dass die Auswahl der Wissenschaftler in der Corona-Krise "nicht immer wissenschaftlicher Exzellenz folge". Den Autoren zufolge seien vor allem meinungsstarke Wissenschaftler in der Öffentlichkeit und in Talkshows präsent. So entstehe eine "false balance", die man den Redakteuren zufolge auch beim Phänomen der Klimawandelleugner kenne. Möglicherweise soll auf diese Weise mehr oder weniger subtil versucht werden, Kritiker der Lockdown-Politik der Bundesregierung auf eine Ebene mit Klimawandelleugnern zu stellen.
Im Artikel heißt es weiter, dass Streeck in den Anfangstagen der Corona-Krise "völlig daneben lag", als er die Entscheidung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kritisierte, die gesundheitliche Notlage auszurufen. Weiterhin wird ihm indirekt unterstellt, dass er durch seine Aussage, wenn man nicht wüsste, dass das Virus existiert, "hätte man vielleicht gesagt, wir haben eine schwerere Grippewelle gehabt dieses Jahr", Futter für die "Querdenken"-Bewegung geliefert zu haben. Wenig erstaunlich ist hingegen, dass Lockdown-Befürworter und "No COVID"-Anhänger wie Christian Drosten und Melanie Brinkmann im Artikel gut wegkommen.
Streeck und auch einige andere Wissenschaftler räumten bereits ein, dass sie mit einigen ihrer Prognosen danebenlagen. Was die Wissenschaftler an der Darstellung im Spiegel jedoch aufregt, ist die vorgefertigte Meinung und Verdrehung von einzelnen Zitaten. Auch der Virologe Klaus Stöhr wird im Spiegel-Artikel als "Prophet auf dem Irrweg" bezeichnet. Stöhr wirft dem Spiegel diesbezüglich einen "Mangel an journalistischer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit" vor. Es sei offensichtlich, dass der Spiegel die Aussagen der betroffenen Wissenschaftler selektiv benutzt, "um die vorgefertigte Meinung zu verifizieren". Im Artikel wird ihm vorgeworfen, dass er zuletzt "vor 18 Jahren" während seiner Arbeit bei der WHO mit Coronaviren zu tun hatte. Während der Folgezeit hätte er laut Spiegel beim Pharmakonzern Novartis gearbeitet und sich mit Influenza beschäftigt. Stöhr erklärte gegenüber Der Welt zudem, man habe seine Forderung, den Fokus auf den Schutz der Risikogruppen zu legen, im Artikel auf den alleinigen Schutz der Risikogruppen verkürzt:
"Das Verhalten erinnert an Aktivisten, die als Gutmenschen aus der ganzen Seele heraus eine richtige Sache unterstützen möchten."
Für Stöhr ist die Gereiztheit und Polarisierung in den Medien auch politik- und medienbedingt:
"Die haben dann aus den sich für sie ergebenden Widersprüchen bei der wissenschaftlichen Bewertung eine handfeste Polarisierung gemacht, die durch einige Wissenschaftler noch befördert wurde."
Der Infektiologe Matthias Schrappe, der sich mehrfach für einen Kurswechsel in der Corona-Strategie der Bundesregierung aussprach, kam im Artikel ebenfalls nicht gut weg. Er wird mit dem Satz zitiert: "Die Bedrohlichkeit der Mutation ist ja nichts weiter als Propaganda." Schrappe erklärte, er meinte damit, "dass die Mutationen von der Politik als einziges Argument genutzt werden, um den Lockdown zu verlängern". Zur Darstellung Streecks im Artikel merkte er an:
"Ich fand es unsäglich, wie versucht wurde, den Kollegen Streeck charakterlich zu demontieren."
Spiegel-Chefredakteur Steffen Klusmann und Hendrick Streeck sollen bereits miteinander telefoniert haben. Bisher habe sich aber noch kein Wissenschaftsredakteur bei Streeck gemeldet. Man würde sich von Seiten des Spiegels jedoch freuen, wenn "weiterhin ein persönlicher Austausch mit Herrn Streeck möglich wäre", heißt es in Der Welt.
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