In einem Urteil vom 11. Januar hatte das Amtsgericht Weimar die im Frühjahr auf Grundlage der damals geltenden Thüringer Corona-Verordnung verhängten Kontaktbeschränkungen für verfassungswidrig erklärt. Zudem verstoße die Anordnung des Kontaktverbots gegen die Menschenwürde und sei nicht verhältnismäßig. Darüber hinaus seien die Lockdowns auch mit dem Grundgesetz unvereinbar. Im Urteil heißt es unter anderem:
"Es gab keine 'epidemische Lage von nationaler Tragweite', wenngleich dies der Bundestag mit Wirkung ab dem 28.03.2020 festgestellt hat."
Ausgangspunkt des überregional bekannt gewordenen Richterspruchs war die Klage eines jungen Mannes aus Weimar, der sich Ende April 2020 zusammen mit sieben weiteren Personen im Hof eines Wohnhauses zu einer Geburtstagsfeier getroffen hatte. Ein halbes Jahr nach der Feier hatte die Stadtverwaltung ein Bußgeld gegen ihn verhängt, woraufhin er Widerspruch dagegen einlegte.
Anders als in ähnlich gelagerten Fällen, urteilte das Weimarer Gericht nicht allein mit Blick auf das Bußgeldverfahren im engeren formalen Sinne, sondern bezog auch die grundlegenden Rahmenbedingungen in die Urteilsfindung mit ein. Und das Gericht gelangte dabei auf Grundlage einer Reihe von inhaltlichen Argumenten zu dem Schluss, dass die fraglichen politischen Entscheidungen einer hinreichenden sachlichen Grundlage für die behördlichen Anordnungen entbehrten.
Es sei ein "Tabu verletzt" worden, und die politischen Entscheider hätten "die Grundlagen der Gesellschaft" angegriffen und die Freiheitsrechte der Menschen auf unzulässige Weise beschnitten. So habe sich die Politik bei ihren gut gemeinten Bemühungen, ein Ausbreiten des Virus einzudämmen, zum Teil auf "falsche Annahmen" gestützt oder gesicherte Fakten falsch interpretiert. Jedenfalls sei die Lage nicht allumfassend geprüft worden. Zudem gebe es begründete Zweifel an signifikanten positiven Effekten von Lockdowns.
Zwar besitzt das noch nicht rechtskräftige Urteil keine Allgemeingültigkeit, sondern bezieht sich lediglich auf den konkreten, vorliegenden Fall. Denn für die Bewertung der Verfassungsmäßigkeit ist eigentlich das Bundesverfassungsgericht zuständig, zuvor sind es die Verfassungsgerichte der Bundesländer. Bei Rechtsverordnungen, die nicht vom Bundestag oder von einem Landtag beschlossen wurden, darf sich allerdings zunächst jedes Gericht zur Verfassungsmäßigkeit äußern. Nach dem Weimarer Urteil dürfte nun aber vermutlich die Zahl der gegen Lockdown-Beschlüsse eingelegten Rechtsmittel ansteigen.
Entsprechend hat die (weisungsgebundene) Staatsanwaltschaft Erfurt bereits – wie zu erwarten – reagiert und beim Amtsgericht Weimar einen Antrag auf Zulassung einer Rechtsbeschwerde eingelegt. Man wolle erreichen, dass das Urteil mitsamt den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben werde. Die Sache solle zu einer neuen Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Richter zurückverwiesen werden, wie der Sprecher der Staatsanwaltschaft Hannes Grünseisen bereits am Freitag gegenüber dpa mitteilte. Der Schritt sei geboten, um die Weimarer Entscheidung "zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu überprüfen", so Grünseisen weiter.
Inwieweit dem Ansinnen der Staatsanwaltschaft Rechnung getragen werden wird, bleibt abzuwarten. Es könne jedoch spannend werden, so meint der aus der RTL-Gerichtssendung "Das Strafgericht" bekannte Jurist und Publizist Carlos A. Gebauer in einem Gastbeitrag auf dem Onlineportal achgut.com.
Denn der "Clou" an einer bußgeldrechtlichen Rechtsbeschwerde sei, dass diese nicht erst vor dem Landgericht, sondern gleich direkt vor dem Oberlandesgericht (OLG) verhandelt werde. Dies sei "natürlich auch dem Amtsrichter bekannt" gewesen, weswegen er "keine kurze und knappe Entscheidung abgesetzt, sondern eine ganze Armada an Argumenten geliefert [habe], das jedes für sich (!) die Sanktionierung des 'Abstandsverstoßes' ordnungsrechtlich unmöglich macht." Und weiter:
"Die Richter des OLG sind dadurch nun in die Lage manövriert, jeden einzelnen dieser Gesichtspunkte detailliert widerlegen zu müssen, um noch zu einer Verurteilung des 'Täters' zu kommen. Das geht auch nicht simpel durch Zurückverweisung an das Amtsgericht, wo dann (wie in solchen Fällen nicht unüblich) ein anderer Richter erneut entscheiden muss. Denn das OLG ist eine reine Rechtsprüfungsinstanz. Es werden keine Tatsachen mehr überprüft. Ein OLG erhebt in der Rechtsbeschwerde keinen Beweis. Das ist hier auch nicht erforderlich, denn die 'Tat' steht ja fest. Es geht 'nur' um die reine Rechtsfrage. Die kann und muss das OLG selbstständig entscheiden."
Unterdessen wird der Vorgang bereits durch verschiedene Medien mit bundespolitischer Reichweite auf eine ganz bestimmte Weise "interpretiert". So titelte etwa das Boulevardblatt Bild: "Sitzt in Weimar ein Querdenker auf dem Richterstuhl?". Der Focus bezeichnet den Kläger im ursprünglichen Bußgeldverfahren gar als "Corona-Sünder" und fragt, ob der Weimarer Amtsrichter "womöglich voreingenommen" sei. Denn nach Recherchen des Magazins habe dieser bereits zweimal als Privatperson gegen den Freistaat Thüringen geklagt, um "Maskenpflicht und Abstandsregeln zu kippen". Ein Leser hätte gefragt, ob der Richter "gar Mitglied der AfD" sei und ein anderer gefordert, sich "diesen Richter mal etwas genauer an[zu]schauen".
Derlei "Berichterstattung" erweckt zumindest den Anschein, dem Weimarer Richter solle unterschwellig die Aura verliehen werden, er sei nicht neutral, nicht überparteilich und nicht unvoreingenommen. Auch, dass der Richter häufig namentlich genannt wird, fällt hierbei auf. Ob diese Art der medialen Widerspiegelung bei einem anderen – also weniger regierungskritischen – Urteil ähnlich ausgefallen wäre, dürfte eine Frage sein, die hier durchaus im Raum stehen bleibt. Boris Reitschuster formuliert es auf seinem Onlineportal reitschuster.de so:
"Bemerkenswert: Nach dieser Logik [des Focus] dürften dann also nur noch Richter zu Corona urteilen, die nicht bekannt sind für kritische Äußerungen darüber. Umgekehrt müsste nach dieser Logik dann auch ein Richter abzulehnen sein, der strikt hinter den staatlichen Maßnahmen steht und sich entsprechend öffentlich geäußert hat."
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