Die sogenannte "Querdenker"-Bewegung nimmt für die Bundesregierung offensichtlich immer bedrohlichere Ausmaße an. Unter dem Banner des Protests gegen die staatlichen Verordnungen und das teilweise Aussetzen von gewissen Grundrechten im Zuge der Corona-Krise gehen in Deutschland seit Monaten Zehntausende Menschen auf die Straße. Immer wieder sind auch Gruppen dabei, die sich als sogenannte Reichsbürger zu erkennen geben. Auch Rechtsextreme nutzen die Proteste für ihre Zwecke aus.
"Wir beobachten ganz klar extremistische und antisemitische Tendenzen. Deswegen muss auch der Verfassungsschutz sehr genau hinsehen", sagte etwa Berlins Innensenator Andreas Geisel der dpa kurz vor der Herbsttagung der Innenministerkonferenz (IMK) in der kommenden Woche. Eine abschließende Bewertung der Frage sei in Berlin "aber noch nicht erfolgt".
Auch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey sieht den Verfassungsschutz gefordert. Der Staat müsse wachsam sein, wenn die Demokratie angegriffen werde oder wenn demokratische Organe bedroht würden, "wie neulich, als Störer in den Bundestag eingedrungen sind und Abgeordnete daran hindern wollten, ihrer Arbeit nachzugehen". So etwas habe es bislang nicht gegeben, sagte Giffey den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Dem muss etwas entgegengesetzt werden."
Befragt dazu, ob sie Verständnis für die Wütenden habe, die gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gingen, meinte sie:
"Mein Verständnis ist begrenzt. Ich kann diese massive Ablehnung aber nicht nachvollziehen. Wir haben inzwischen wirklich hohe Todesfallzahlen. Was muss denn noch passieren, damit diese Leute begreifen, wie gefährlich diese Krankheit ist?"
Damit stehen die SPD-Politiker in einer Reihe mit Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU), der ebenfalls eine Überwachung der Bewegung durch den Inlandsgeheimdienst fordert.
Die eigentliche Herausforderung bei dem Thema ist laut Geisel die Unterscheidung: Wer ist Extremist, wer ist Antisemit, und wer steht auf dem Boden des Grundgesetzes.
"Es gibt in der Bewegung Verbindungen zu rechtsextremistischen Parteien und Personen, die sichtbar geworden sind. Das ist schon sehr, sehr eindeutig."
Der Verfassungsschutz müsse klären, ob die Gesellschaft es hier nicht mit einem neuen Extremismusphänomen zu tun habe, meinte Geisel weiter. Anfangs habe man die "Querdenken"-Bewegung noch für weniger problematisch halten können. "Spätestens seit dem Sommer ist klar, dass auf den Bühnen Leute standen, die sagten, sie erkennen das Grundgesetz nicht an, sie wollen eine neue Verfassung", betonte er.
"Herr Ballweg zeigt sich Schulter an Schulter mit dem Antisemiten Martin Lejeune in Videoclips. Auch seit den Angriffen auf Bundestagsabgeordnete ist deutlich geworden, wer da unterwegs ist. Spätestens jetzt muss es jeder wissen."
[Nachtrag der Redaktion: Inzwischen hat sich die Senatsinnenverwaltung nach eigenen Angaben dazu verpflichtet, Lejeune nicht mehr als "Antisemiten" zu bezeichnen, soweit er "in der Zukunft nicht einen neuen einschlägigen Sachverhalt durch Äußerungen, Handlungen oder in sonstiger Weise schafft".]
Die Innenministerkonferenz will sich am Donnerstag mit dem Thema befassen. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) hatte eine schnelle Beobachtung gefordert. Politiker in anderen Bundesländern rechnen damit, dass es bald eine Entscheidung über einen sogenannten Prüffall geben könnte. Das wäre dann die Vorstufe eines Verdachtsfalls, bei dem der Verfassungsschutz auch geheimdienstliche Mittel einsetzen kann.
Der Stuttgarter "Querdenken"-Initiator Michael Ballweg sagte der dpa: "Die Bewegung wird falsch dargestellt. Wir sind eine friedliche Bewegung und keine politische Partei." Extremismus, Gewalt, Antisemitismus und menschenverachtendes Gedankengut hätten ebenso wenig Platz bei den "Querdenkern" wie die Symbole dieser Denkweisen.
Eine jüngst durchgeführte soziologische Untersuchung von Wissenschaftlern der Universität Basel ergab, dass die Bewegung entgegen den medialen und politischen Behauptungen von der Mitte der Gesellschaft getragen wird. Wie die FAZ berichtete, wurden dafür über eintausend "Querdenker" befragt – und das Ergebnis dürfte für nicht wenige überraschend ausgefallen sein, auch wenn sie nicht repräsentativ ist.
"Sozialstrukturell handelt es sich um eine relativ alte und relativ akademische Bewegung. Das Durchschnittsalter beträgt 47 Jahre, 31 Prozent haben Abitur, 34 Prozent einen Studienabschuss, der Anteil Selbständiger ist deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung. Bei der letzten Bundestagswahl haben 21 Prozent die Grünen und 17 Prozent die Linke gewählt. Der AfD haben 14 Prozent ihre Stimme gegeben. Bei der nächsten Bundestagswahl wollen nun aber 30 Prozent der AfD ihre Stimme geben", sagte der Basler Soziologe Oliver Nachtwey zur Auswertung der Umfrage.
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(rt/dpa)