Seit Montag gilt deutschlandweit der sogenannte Teil-Lockdown. Erneut sind Gastronomen gezwungen, ihre Lokale, Gaststätten und Restaurants zu schließen. Erneut blicken die bereits schwer gebeutelten Kulturschaffenden in den Corona-Abgrund. Weite Teile des Landes stehen still im Kampf gegen die "Pandemie nationalen Ausmaßes".
Am Montag nach der Sitzung des Corona-Kabinetts ergriff Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Bundespressekonferenz das Wort:
Ob diese große gemeinsame Kraftanstrengung etwas bringt im Monat November, das hängt nicht nur von den Regeln ab, sondern vor allem auch davon, ob diese Regeln befolgt werden", erklärte sie.
Dabei betonte sie, es gehe jetzt darum, die Zahl der Kontakte im täglichen Leben auf ein Viertel zu verringern. Ziel sei es, die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz – also wie viele Menschen pro 100.000 Einwohner sich innerhalb einer Woche neu infizieren – deutlich zu senken.
Wir müssen wieder runter in den Bereich von unter 50", sagte Merkel.
Erst dann seien die Gesundheitsämter wieder in der Lage, Infektionsketten umfassend nachzuverfolgen und auch zu durchbrechen.
Das bevorstehende Weihnachten unter dem Corona-Stern solle jedoch, so Merkel, kein Fest der Einsamkeit werden.
Es wird ein Weihnachten unter Corona-Bedingungen sein, aber es soll kein Weihnachten in Einsamkeit sein.
Unmittelbar bevor der beschlossene Lockdown "light" Realität wurde, bezog der Direktor am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité, Stefan Willich, zum Thema Stellung. Willich zeigte sich gegenüber der Berliner Zeitung davon überzeugt, dass der vom Merkel-Kabinett beschlossene Lockdown "in seiner Allgemeinheit überzogen" sei.
Ein Lockdown sollte eine Maßnahme nur im absoluten Notfall bleiben", so Willich weiter.
Für den Epidemiologen belaste der Lockdown das Gesundheitssystem zusätzlich.
Mit dem Lockdown wird die Belastung für das Gesundheitswesen insgesamt zunehmen. Wir sehen jetzt schon die Folgen im psychiatrischen Bereich, wie Angststörungen oder Depressionen. Vor allem aber müssten alle anderen Krankheiten weiter behandelt und Patienten versorgt werden können, um einen therapeutischen Rückstau und eine Verschlechterung des Zustands der Patienten zu verhindern.
Auch die großflächigen Einschränkungen im Sportbereich für Kinder und Jugendliche hält der Mediziner für falsch.
Vor allem für die sozialen und emotionalen Kontakte ist es für Kinder und Jugendliche sehr wichtig, Sport auch in der Gruppe treiben zu können. Hier sollte es unbedingt Sonderregelungen geben", erklärte er gegenüber der Zeitung.
Auch den von Merkel erneut ins Spiel gebrachten Inzidenzwert von 50 sah der Direktor des Instituts für Epidemiologie an der Berliner Charité bereits vor gut zwei Wochen kritisch.
Man hat vor mittlerweile fünf Monaten diesen Schwellenwert von 50 sogenannten Neuinfektionen pro Woche pro 100.000 definiert. Das schien damals präzise, war aber immer nur ein grober Anhaltspunkt", erläuterte Willich gegenüber dem rbb Inforadio.
Die sogenannte Inzidenz gilt jedoch auch der Bundesregierung nach wie vor als wichtiger Richtwert in der Corona-Krise. Die Sieben-Tage-Inzidenz gibt dabei die Zahl der mutmaßlichen Neuinfektionen innerhalb der vergangenen sieben Tage pro 100.000 Einwohner an. Im Bundesgebiet liegt die zulässige Obergrenze trotz massiv ausgeweiteter Tests noch immer bei 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche.
Der Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, der Epidemiologe Gérard Krause, hält ohnehin wenig von der Fokussierung auf die Infektionszahlen.
Es ist wichtig zu bedenken, dass die Infektionszahlen eigentlich nicht unser Kernfokus sein sollten, sondern die Erkrankungszahlen", erklärte er gegenüber dem Deutschlandfunk.
Vor wenigen Tagen war der Charité-Experte Willich zu Gast in der öffentlich-rechtlichen Talk-Sendung Anne Will. Mit Verweis auf jüngste Studien der WHO und die allgemeine Gefährlichkeit des Coronavirus erklärte Willich:
Die Weltgesundheitsorganisation hat in den letzten Tagen zwei wichtige Studien vorgelegt. Einmal zur Frage wie gefährlich ist die Krankheit überhaupt. Da hat sie alle Studien zusammen analysiert und kommt jetzt auf eine Sterblichkeit von 0,2 bis 0,3 Prozent. Was deutlich niedriger ist, als das was in der Öffentlichkeit immer angenommen wird.
Erneut äußerte sich der 1993 im Fachbereich innere Medizin habilitierte Epidemiologie dabei kritisch gegenüber dem nun realisierten Teil-Lockdown seitens der Bundesregierung.
Und zum zweiten die Frage, nationale Lockdowns, was haben die für Nebenwirkungen und das sind gravierende Schäden. Im psychiatrischen Bereich, aber auch durch verschobene Operationen, Eingriffe, bis hin zur Frage: Existenzbedrohung, Armut und daraus resultierend wieder gesundheitliche Schäden. So, das muss man erstmal wissen, wenn man dann überlegt, ist der Lockdown jetzt gerechtfertigt", stellte Willich fest.
Dennoch ist auch er davon überzeugt, dass nun gehandelt werden müsse. Dabei dürfe man jedoch nicht nach dem Gießkannenprinzip verfahren.
Ich denke, der Zeitpunkt ist genau richtig, man muss jetzt agieren, die Infektionszahlen sind nach oben gegangen und, was noch wichtiger ist, die intensivmedizinische Kapazität ist tatsächlich teilweise an der Grenze. Aber ich denke, die Maßnahmen sind in zwei Punkten falsch oder kritikwürdig. Erstens müssen sie regional adjustiert sein. Das was für Berlin gilt, gilt für Mecklenburg-Vorpommern nicht. Und, sie dürfen nicht alle Bereiche undifferenziert abdecken", so der renommierte Mediziner und Dirigent.
Dass etwa auch der Kulturbereich in den Lockdown gezwungen worden sei, hält Willich für absolut falsch. Es seien nach seiner Kenntnis im Kulturbereich "keine relevanten Infektionsherde" bekannt geworden, da sehr gute Hygienekonzepte umgesetzt worden sind. Trotzdem wurden diese Bereiche geschlossen.
Den Teamsport für Kinder und Jugendliche an der frischen Luft zu verbieten, halte er ebenfalls für nicht gerechtfertigt und sozialpsychologisch für kontraproduktiv. Bereits am 22. September erklärte Willich:
Wenn wir nicht aufpassen, kommen unsere Kinder unter die Räder, denn sie haben keine wirkliche Lobby.
Für ihn gäbe es in der aktuellen Situation keinen "Grund zu Angst und Panik". Doch auch seine Stimme scheint im allgemeinen Corona-Aktionismus unterzugehen.
Laut der Internetseite statista stieg die Anzahl der hospitalisierten COVID-19-Fälle zuletzt wieder, doch dies sei relativ zu sehen.
In Kalenderwoche 43 übersprang sie erstmals seit langem wieder über die Marke von 2.300 Personen. Sie liegt damit jedoch immer noch auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau: Ende März stieg die Zahl in der Kalenderwoche 14 auf den bisherigen Höchststand von 6.049 Personen", hieß es einordnend am 2. November.
Wie das DIVI-Intensivregister mit Stand vom 5. November vermeldete, befänden sich 2.653 COVID-19-Erkrankte in intensivmedizinischer Behandlung. Davon würden 54 Prozent invasiv beatmet. 7.604 High-Care-Intensivbetten seien bei 1.286 meldenden Krankenhaus-Standorten belegt, 5.211 noch frei. Zudem betrage die 7-Tage-Notfallreserve 12.682 Betten.
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