Es gelte zu verhindern, dass es mit schnelleren Zuwächsen zu einem Moment komme, "wo wir die Kontrolle verlieren", mahnte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am Donnerstag in Berlin. Der CDU-Politiker bezog sich auf die steigenden Zahlen der positiv Getesteten in den vergangenen Tagen. Laut Robert Koch-Institut meldeten die Gesundheitsämter allein innerhalb der vorangegangenen 24 Stunden 4.058 neue Corona-Fälle.
Bei aller Zuversicht müssen die neuen Zahlen, auch die Zahlen von heute, gleichzeitig besorgen. Sie besorgen mich sehr.
Es komme nun auf die Balance zwischen Zuversicht und Achtsamkeit an. Dies betreffe alle Bürger – beim Einhalten von Schutzregeln wie Abstand und Masken sowie Vorsicht bei Feiern.
Es liegt an uns allen, ob wir es schaffen. Wenn 80 Millionen mitmachen, sinken die Chancen des Virus gewaltig", sagte Spahn.
Diese Pandemie sei laut dem CDU-Politiker auch "ein Charaktertest für uns als Gesellschaft", der nur gemeinsam zu bestehen sei. Neben den bisherigen AHA-Regeln – Abstand, Hygiene, Alltagsmaske – sind nun noch zwei dazu gekommen: In der kalten Jahreszeit komme es ergänzend aufs Lüften und ein breites Nutzen der Corona-Warn-App an, so Spahn. Passend zu dieser Aussage veröffentlichte heute Regierungssprecher Steffen Seibert via Twitter eine Grafik zu den ergänzten Verhaltensregeln:
Nicht nur Spahn zeigte sich besorgt. Auch der Präsident des bundeseigenen Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, betonte: "Die aktuelle Situation beunruhigt mich sehr." Man könne nicht wissen, wie sich die Lage in Deutschland in den nächsten Wochen entwickeln werde. Wieler ergänzte:
Es ist möglich, dass wir mehr als 10.000 neue Fälle pro Tag sehen. Es ist möglich, dass sich das Virus unkontrolliert verbreitet.
Er hoffe aber, dass sich ein Niveau halten lasse, mit dem man umgehen könne. Ziel sei es, "so wenige Infektionen wie möglich zuzulassen". Dann werde das Gesundheitssystem nicht überlastet, und nur dann verhindere man viele schwere Verläufe. Spahn bekräftigte jedoch auch, dass es inzwischen mehr Wissen und Instrumente für den Kampf gegen das Virus gebe. Die Zahl der Todesfälle und Intensivpatienten in den Kliniken sei momentan nach wie vor vergleichsweise niedrig.
Von einem "zweiten Lockdown" wollte der 40-Jährige nicht sprechen. Dies suggeriere, man wäre wieder in einer Lage von März/April. Es gebe inzwischen aber Erfahrungen, wie mit Schutzvorkehrungen in vielen Bereichen ein normaler Betrieb gelinge. Es gebe keine Ausbrüche beim Einkaufen, bei Friseuren und kaum welche im Nahverkehr. Auch in Schulen seien die Dinge insgesamt gut im Griff. Kritisch seien etwa Feiern und Veranstaltungen.
Muss die Hochzeitsfeier mit 200, 300 Gästen mitten in dieser Jahrhundertpandemie jetzt sein? Das kann ich mich als Veranstalter fragen, als Einlader, und ich kann mich das als Eingeladener fragen. (…) Das Gleiche gilt für bestimmte Formen des Zusammenkommens, um religiöse Ereignisse zu feiern.
Es sei richtig, wenn Städte wie nun Berlin mit Alkoholbeschränkungen gegensteuern. Nötig seien zudem Kontrollen und dass Bußgelder verhängt werden.
In Italien verschärft die Regierung derweil ihren Kurs im Kampf gegen die Virus-Ausbreitung. Am Mittwoch wurde eine landesweite Maskenpflicht im Freien beschlossen. Zudem wurde der Notstand bis zum 31. Januar verlängert. Italien meldete am Mittwoch mehr als 3.000 Positiv-Tests pro Tag.
Spahn erklärte heute in Berlin, dass ab Mitte Oktober Schnelltests eingesetzt werden sollen, vor allem in Pflegeheimen und Kliniken. Durch eine Bundesbeteiligung an Verträgen seien vorerst bis zu neun Millionen Schnelltests pro Monat für den deutschen Markt gesichert.
Nicht nur Zahl der "Neuinfektionen" wichtig
Spahn und Wieler wiesen heute darauf hin, dass für die Gesamtbetrachtung der Corona-Entwicklung in Deutschland nicht nur die Zahl der täglich registrierten "Neuansteckungen" entscheidend sei. Man konzentriere sich auf eine Vielzahl von Zahlen, etwa die Zahl schwerer Krankheitsverläufe oder die Belegung der Intensivstationen, wo es sehr gute Zahlen gebe, so Wieler.
"Ich wäre dankbar, wenn die Komplexität dieser Pandemie entsprechend häufiger dargestellt würde", ergänzte der RKI-Präsident. Spahn sagte, das Thema sei zu komplex, um es auf eine Zahl zu reduzieren. Auf den RKI-Seiten seien jeden Tag alle Zahlen aktuell verfügbar, nicht nur die sogenannte Infektionszahl. Diese zu melden, sei gesetzlich vorgegeben, sagte Wieler, und sie sei sehr wichtig für einen Einblick in die Dynamik der Pandemie. Sie sei aber nur eine von mehreren Zahlen.
Erst vor wenigen Tagen hatten mehrere Experten darauf hingewiesen, dass die absolute Zahl der mutmaßlichen "Neuinfektionen" nicht besonders aussagekräftig sei und es seit Ende April keine Übersterblichkeit durch Corona mehr gebe. So sagte etwa Hendrik Streeck, Virologe des Universitätsklinikums Bonn:
20.000 Neuinfektionen pro Tag, das klingt erst mal nach Apokalypse, das sind enorme Zahlen. Aber im Grunde sollte uns das keine Angst machen, weil ein milder Verlauf oder ein Verlauf ohne Symptome trägt nicht so stark zum Infektionsgeschehen bei.
Mehr zum Thema - ARD-Sendung: Zahl der mutmaßlichen "Neuinfektionen" nicht aussagekräftig