Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hielt in den vergangenen knapp sieben Monaten einige emotionale Ansprachen, mit denen sie die Bevölkerung in Deutschland für die Bedrohungslage sensibilisieren wollte, die von dem Coronavirus ausgehen soll. Was sie sagt, hat auch nach bald 15 Jahren Dauer-Kanzlerschaft nach wie vor Gewicht in der Gesellschaft. Als die Bundesregierung in den Krisenmodus schaltete, die Menschen in die eigenen vier Wände verbannte, Grenzen schließen ließ und die Wirtschaft herunterfuhr, hallten ihre Worte aus der Rede vom 18. März wie ein Omen nach.
Seitdem ist viel passiert. Die Forschung über den SARS-CoV-2-Erreger ist natürlich weiter, als sie es zum Zeitpunkt von Merkels damaliger Fernsehansprache war. Glücklicherweise sind auch die befürchteten Bedrohungsszenarien wie Zehntausende von Todesopfern oder ein Zusammenbrechen des Gesundheitssystems hierzulande nicht eingetroffen. Tatsächlich blieben die eigens für die Behandlung von schwererkrankten COVID-19-Patienten freigehaltenen Intensivbetten sogar größtenteils leer, und eine Übersterblichkeit (gegenüber normalen Zeiten) hat es zu keinem Zeitpunkt der Krise gegeben.
Trotzdem hat die Bundesregierung, die sich dazu insbesondere von Christian Drosten, dem Chefvirologen der Berliner Charité beraten lässt, den Krisenmodus nie wieder verlassen. Ganz im Gegenteil. In den vergangenen Wochen wurden der Alarm aus Berlin wie auch aus München immer lauter, wobei es den Anschein hat, als ob der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) die Politik in der bundesdeutschen Hauptstadt diesbezüglich vor sich her treibt. Dabei hat man das, was Merkel im März noch versprach, nämlich die Bundesregierung werde "lernfähig bleiben, um jederzeit umdenken und mit anderen Instrumenten reagieren zu können", schon längst vergessen. Auch dieser Satz erscheint angesichts der Entwicklung wie blanker Hohn:
Wir sind eine Demokratie. Wir leben nicht von Zwang, sondern von geteiltem Wissen und Mitwirkung.
Der Maskenzwang und das ausschließliche Festhalten an Parametern wie den sogenannten "Infektionszahlen", die wenig Aussagekraft für die Einschätzung der Gesamtlage besitzen, sprechen eine andere Sprache.
Prof. Dr. Hendrik Streeck gehört zu den bekanntesten und anerkanntesten Kritikern am Vorgehen der Bundesregierung. Als Direktor des Instituts für Virologie an der Uniklinik Bonn leitete er die detaillierten wissenschaftlichen Untersuchungen des ersten Corona-Ausbruchs in Heinsberg. Während versucht wird, viele andere Kritiker aus der Wissenschaft – auf teilweise rufschädigende Art und Weise – aus dem Diskurs herauszuhalten, ist das bei Streeck nicht so einfach möglich. Er übernahm schließlich die Nachfolge von Drosten am Universitätsklinikum Bonn, bevor dieser nach Berlin wechselte.
Auf dem Wirtschaftsforum "Neu Denken", das vom 1. bis zum 3. Oktober in Hamburg stattfand, warnte Streeck eindringlich vor den Folgen der Panikmache in Politik und Medien. Die Gesellschaft werde durch das Schüren von Ängsten gespalten, sagte er vor hochrangigen Vertretern aus der Wirtschaft. Die damit ausgelöste Furcht bei vielen Menschen sei zudem "irrational", weil die Gefahr für Leib und Leben längst nicht so dramatisch ist, wie noch im März befürchtet wurde. Die Sterblichkeitsrate an COVID-19 liege in Deutschland höchstens bei 0,37 Prozent. Bei der Grippewelle von 2017 habe man hingegen eine deutliche Übersterblichkeitsrate feststellen können. Im Vergleich dazu meldete die brasilianische Metropole Manaus sogar eine noch tiefere Sterblichkeitsrate von 0,28 Prozent, so der Bonner Virologe.
Wir haben es mit einem ernstzunehmendes Virus zu tun, aber wir dürfen dieses Virus nicht mehr überdramatisieren.
Das bedeute aber nicht, dass vom Coronavirus keine Gefahr ausgehe, aber "es wird nicht unser Untergang sein", sagte Streeck. "Dieses Virus ist tödlich nur für wenige. Genauso wie viele andere Viren auch", ergänzte er vor seinen Zuhörern. Das Risiko einer Ansteckung im Alltagsgeschäft sei gering, und es gebe auch fast keine Übertragung über Gegenstände. Bei den meisten all jener, die einen positiven Laborbefund erhalten haben und offiziell als Corona-Infizierte gelten, verlaufen die "Infektionen" zudem völlig symptomfrei. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse sollten doch eigentlich Mut machen, gab er zu bedenken.
Zudem gebe es für übertriebene Maßnahmen – wie beispielsweise Maskenzwang im Freien – keinen Grund. Das würde nur dazu führen, dass sich die Akzeptanz für andere sinnvolle Maßnahmen in der Bevölkerung verringere. Deshalb fordert Streeck "einen Wechsel im Krisenmanagement" der Bundesregierung. Der Hauptfokus dürfe nicht mehr auf den reinen "Infektionszahlen" liegen, die als Grundlage für weitere Entscheidungen dienten. Stattdessen sollte man andere Aspekte wie tatsächliche Krankheitsfälle oder Belegung von Intensivbetten als Kriterium in die Entscheidungsfindung aufnehmen.
Die Lage in Deutschland erlaube es auch, mit dem Risiko intelligent umzugehen. Es spreche aus seiner Sicht nichts dagegen, öffentliche Veranstaltungen mit guten Hygienekonzepten stattfinden zu lassen. Das gesellschaftliche Leben sollte nach einer monatelangen Auszeit wieder zugelassen werden. Es sei ein Irrglaube, wenn man davon ausgehe, dass man auf "einen Pause-Knopf des Lebens drücken" und glauben könne, dass dadurch "das Virus dann vorbei" sei.
Hendrik Streeck setzt offensichtlich auch wenig Hoffnung auf einen Corona-Impfstoff, mit welchem das Virus "besiegt" werden soll, wie es etwa in dem Eckpunktepapier des Koalitionsausschusses vom 3. Juni steht. Dort heißt es, dass die "Corona-Pandemie endet, wenn ein Impfstoff für die Bevölkerung zur Verfügung steht." Selbst mit einem erneuten Lockdown wie im Frühjahr werde das nicht möglich sein, weil es immer wieder Corona-Wellen wie auch Grippewellen geben wird, sagt der bekannte Virologe voraus.
Wir sind in einer Dauerwelle. Wir müssen uns damit abfinden, das Virus wird normaler Teil unseres Lebens werden.
Es gebe indessen bereits Anzeichen dafür, dass sich auch ohne Impfstoffe eine Herdenimmunität in verschiedenen Ballungszentren der Welt entwickelt. Man könne das in den USA, Indien, Brasilien oder Schweden beobachten, erklärte Streeck. Hoffnungen auf einen baldigen Einsatz von Corona-Impfungen erteilte er hingegen eine Absage. "Gerade in der letzten Phase gibt es Überraschungen, mit denen man häufig nicht rechnet", sagte er und verwies dabei auf andere Erreger wie Malaria oder Tuberkulose, an denen trotz Forschung nach wie vor jedes Jahr Millionen von Menschen sterben.
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